Kapitel 21

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Der Laden war von oben bis unten mit Stoffen gefüllt und roch nach Honigseife und morschem Holz. Die Dielen unter Lovas Füßen standen offensichtlich kurz vor dem Zerfall, kleine Löcher verrieten die Holzwürmer. Die Stützbalken unter der Decke erschienen ihr ebenfalls nicht vertrauenswürdig – feine Risse zogen sich hindurch und Holzmehl rieselte bei jedem Schritt auf Lovas Kopf. Der Ansatz ihres Haares war mit hellbraunen Sprenkeln übersät.

Der Besitzer des veralteten Etablissements wartete hinter einem wackligen Tresen und stach in seinem eigenen Geschäft heraus wie ein Nachtschatten im Schnee. Er war jung – dem Verfall des Gebäudes nach zu urteilen, hatte Lova mit einem ebenso alten Mann gerechnet – und edel gekleidet. Die schwarze Tunika saß perfekt, der Saum seiner Hose endete genau über den Knöcheln. Selbst das Leder seiner Stiefel glänzte, obwohl auch seine blonden Haare nicht von dem Holzmehl verschont blieben.

„Familienbesitz?", fragte Lova interessiert, während sie Splitter aus ihren Locken zupfte, „Oder ein unglückliches Geschäft?"

Das Lachen des Mannes offenbarte überraschend weiße Zähne. Entweder war er sehr hygienisch oder noch jünger, als er aussah. „Ein wenig von Beidem", gestand er. „Selbst zu Zeiten meines Großvaters war das Gebäude schon einsturzgefährdet."

Lova lehnte sich gegen den Tresen, um ihre vom Flug müden Muskeln auszuruhen. Bisher hatte sie der Mann weder mit anzüglichen Kommentaren noch auffälligen Blicken bedacht – gegenüber den Gassen der Marktinseln also eine deutliche Verbesserung. „Dann könnt ihr euch glücklich schätzen, dass Wikinger zu risikofreudigen Kunden gehören", sagte sie und legte ihren Geldbeutel auf den Tresen. Der Inhalt war kaum aufsehenerregend; nicht viel mehr als ein paar Goldmünzen. „Ich brauche zwei Sätze wintertaugliche Kleidung. Meinst du, das liegt innerhalb des Budgets?"

Der Mann zog den Beutel zu sich heran und öffnete die Schleife mit geschickten Fingern. Unter seinen Nägeln klebte kein Dreck und seine Handfläche war frei von Erde – ein ungewöhnlicher Anblick, selbst für einen Händler. „Ich denke, wir werden übereinkommen", sagte er nach einer kleinen Weile des Zählens. Ein winziger Haufen goldener Münzen schimmerte neben dem eingefallenen Beutel vor sich hin. „Einer schönen Frau wie dir werde ich sicher ein passendes Angebot machen können."

Er hatte Glück, dass seine Blicke weiterhin respektlos blieben und nicht in ihren Ausschnitt huschten, denn sonst hätte Lova von ihren Waffen Gebrauch gemacht. Doch so konnte sie das Kompliment mit einem Lächeln entgegennehmen, die Fingerknöchel weiß um den Griff ihres Dolches. „Die einzige Bezahlung, die du erhalten wirst, ist Gold", stellte sie dennoch klar.

Der Mann hob entschuldigend die Hände. „Etwas anderes wollte ich nie andeuten", sagte er, „Außerdem reicht das Gold. Ich wollte die Chance nicht einfach ungenutzt lassen."
Verblüfft ließ Lova den Dolch los. „Die Chance?"
„Ich habe selten Kunden", gab der Mann unverblümt zu. Selbst sein Schulterzucken wirkte elegant, als hätte er den Stoff genau auf diese Bewegung zugeschnitten. „Und noch seltener Frauen. Ich habe mir gesagt, ich würde es bereuen, wenn ich es nicht versuchte."

Lova lächelte. Abgesehen von Viggo und Finn machten wenige Männer unter den Wikingern Komplimente ohne Hintergedanken. Die Abwechslung von den lüsternen Blicken und Pfiffen war erfrischend. „Es war ein guter Versuch", erwiderte sie, „Ich wäre sicher darauf eingegangen, wenn ich nicht bereits vergeben wäre."
Die Ladentür quietschte. „Einen Moment!", rief der Mann in Richtung des Neuankömmlings, ehe er Lova ein schiefes Lächeln schenkte. „Wie schade", sagte er, „Dabei sehe ich keinen Ring."

„Ein Versäumnis, welches wir sicher beheben können." Viggo lehnte sich neben Lova über den Tresen, einen Arm um ihre Hüfte gelegt und die Finger in ihren Gürtelschnallen verhakt. „Was denkst du, Liebste?"

„Ich denke, dass das ein ziemlich erbärmlicher Heiratsantrag war." Lova stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte einen sanften Kuss auf Viggos Lippen. „Also, lass uns so tun, als hätte es ihn nie gegeben und du versprichst mir, dich nicht mehr von hinten anzuschleichen."

Viggos Fingerkuppen strichen federleicht über Lovas Nacken, eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. „Liebste, deine Wangen sind rot", flüsterte er, seine Lippen strichen über die empfindliche Haut unterhalb ihres Ohres und ließen sie erschaudern. „Allzu abgeneigt kannst du demnach nicht sein."

„Nicht so abgeneigt, wie du eifersüchtig bist." Lova ließ es sich nicht nehmen, Viggo ein neckischen Grinsen zuzuwerfen, ehe sie sich von ihm ab- und dem Mann hinter dem Tresen zuwandte. „Also, zwei Sätze Winterkleidung zu welchem Preis?"
Das Lächeln des Mannes war bei dem Anblick des Paares eingefallen, doch mit Lovas uneingeschränkter Aufmerksamkeit blühte er wieder auf. „Vier Goldmünzen, M'Lady", sagte er, während er die übrigen Münzen – beunruhigend wenige – zurück in den Beutel schob. „Ich hole die Kleidung aus dem Lager, einen Moment bitte."

Der Mann erhob sich und offenbarte ein krummes Paar Beine und einen watschelnden Gang. Holzspäne rieselten aus seinem Haar, als er sich unter zwei weinroten Samtvorhängen hindurch duckte und mit seiner knorrigen Hüfte gegen eine Kommode voller halbfertiger Umhänge stieß. Ein Wasserfall aus rostigen Nadeln ergoss sich über den Boden, silberrot auf schmutzigem Braun.

Lova musste sich nicht einmal zu Viggo umdrehen um zu wissen, dass er sich das Lachen verkniff. „Eifersüchtig?", wiederholte er amüsiert, „Ich bitte dich, Liebste, dein Geschmack in allen Ehren, doch dieser Mann ist genauso wenig ansehnlich wie die Drachenjäger."
Lova zuckte die Schultern und beobachtete das geschäftige Suchen des Ladenbesitzers. „Sein Gesicht ist ganz nett", sagte sie, „Und er hat bessere Zähne als Dagur."
Viggo rümpfte die Nase. „Zwei Sätze und einen Namen, die ich äußerst ungern aus deinem Mund höre."
„Was würdest du denn lieber hören?" Lova lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter und schloss die Augen. „Irgendwas, um dir die Wartezeit zu vertreiben?"
Viggos Hände verirrten sich in ihrem Haar, spielten mit den kurzen Strähnen in ihrem Nacken. „Du könntest mich beispielsweise fragen, was ich vorhin herausgefunden habe", schlug er vor, „Und, gnädig wie ich bin, könnte ich dir erzählen, dass es einige Neuigkeiten gibt."
„Gibt es die?" Lova drehte den Kopf ein wenig, um ihre Augen von der spärlichen Beleuchtung abzuschirmen und um die Nase in Viggos Halsbeuge zu vergraben. Der herbe Duft nach Kiefer und Harz, der von ihm ausging, vermochte es immer, sie zu beruhigen. „Erleuchte mich."

Viggo lachte, sein Atem streifte ihren Hals und brachte Lova ebenfalls zum Schmunzeln. „Liebend gern", sagte er, offensichtlich ganz in Plauderlaune – alte Manier des Geschäftsmannes. „Wie es aussieht, gibt es eine neue Gruppierung von Drachenjägern, die sich besonders auf den Westen spezialisiert hat. Anscheinend sind sie sogar mit einem fähigen Kopf in ihrer Führung gesegnet, denn bisher sind die Drachenreiter noch nicht auf sie aufmerksam geworden."
„Und wie ist es an deine Ohren gekommen?", fragte Lova und runzelte die Stirn, „Händler wissen zwar oft mehr, als gut für sie wäre, aber das kommt mir ein wenig absurd vor."
„Meine Liebe, würden die Drachenreiter den Erzählungen der Händler Aufmerksamkeit schenken, so hätten sie von ganz anderen Dingen erfahren." Viggo neigte den Kopf und küsste sie auf die Stirn, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen. „Sie sind jung und übermütig; ein Fehler, den keine Intelligenz wettmachen kann. Nennen wir es den Preis der Jugend."
„Dafür, dass du Hicks stets als deinen begabtesten Widersacher bezeichnet hast, bist du jetzt aber ziemlich voreingenommen."

„Ich bin ehrlich", sagte Viggo, während er sich über den Tresen beugte und den Geldbeutel des Ladenbesitzers inspizierte, „Zwischen Voreingenommenheit und Ehrlichkeit besteht ein großer Unterschied."
Lova packte seinen Arm, ehe er nach den funkelnden Goldmünzen greifen konnte. „Nach Ehrlichkeit sieht das hier aber nicht aus", konterte sie, „Sondern vielmehr nach Diebstahl."
„Ich sehe es eher als Leihgabe." Viggo versuchte, sich zu befreien, doch Lova verstärkte lediglich ihren Griff. „Eine Leihgabe ohne Absicht auf Rückkehr wird gemeinhin als Diebstahl bezeichnet", sagte sie und hielt auch seine zweite Hand fest – sicherheitshalber. „Und selbst wenn die Wiedergabe ausgeschlossen wäre, so wäre Zustimmung doch notwendig."
Viggo hob die Brauen und seine Finger zuckten, als ob er zu einer seiner dramatischen Gesten ansetzen wollte. Selbstverständlich gelang es ihm nicht – dafür war Lovas Griff fest genug. „Deine Moralvorstellungen sind entwaffnend, Liebste", erwiderte er und ein anzügliches Grinsen schlich sich auf seine Lippen, als er sich zu ihr herunterbeugte. „Im besten Sinne."
Lova verdrehte die Augen. „Wenn es dich und dein Ego stoppt, ist mir jedes Mittel recht."
„Versuchst du dich an einer Beleidigung oder flirtest du mit mir?", fragte Viggo sichtlich amüsiert, „Ich wäre der zweiten Möglichkeit nicht abgeneigt."
„Ich weiß." Lova ließ von ihm ab und schob sich an ihm vorbei, um dem Schneider im Lagerraum zuzusehen. Der junge Mann war schwer beschäftigt, lagenweise Stoff raschelte unter seinen Händen. Bei jedem unentschlossenen Kopfschütteln rieselte Holzstaub aus seinem Haar, wo es allzu bald wieder ersetzt wurde. „Das war offensichtlich."

Viggo schnaubte abschätzig und folgte ihrem Blick. „Ich bitte dich, Liebste, er ist nicht derartig interessant."
Lova zuckte die Schultern. „Er nicht, aber seine Ware ist es", sagte sie, „Ich habe keinerlei Interesse darin, betrogen zu werden."
„Ein unehrlicher Händler in einem ehrlichen Geschäft überlebt auf den Marktinseln nicht lange." Viggo nahm den Platz neben Lova ein und stützte die Arme auf dem Tresen ab. „Es sei denn, er wäre mit besonderen Qualitäten gesegnet."
Sie verpasste ihm einen halbherzigen Stoß in die Seite. „Keine Notwendigkeit für den Konjunktiv", sagte Lova, „Irgendwelche Fähigkeiten muss er haben, sonst hätte man seinen Laden bereits geplündert."
Viggo kniff nachdenklich die Augen zusammen und musterte den Mann. „In manchen Kreisen ist es völlig ausreichend, Kontakte zu den richtigen Menschen zu haben."

Lova rückte kopfschüttelnd Viggos Tunika zurecht. „Verschwörungstheoretiker."
Er grinste zu ihr herunter. „Geschäftsmann, Liebste."
Der Stoff der zwei roten Samtvorhänge raschelte, als der Verkäufer hervortrat. „M'Lady?"

Der junge Mann hielt zwei Bündel Winterkleidung in den Händen, schneeweiße Schafwolle hob sich absurd rein und sauber von den dunklen Stoffen ab. Er hatte diesen hoffnungsvollen Ausdruck auf seinem Gesicht, dass er beinahe einem hilflosen Lamm ähnelte – absolut nicht geschaffen für eine Umgebung wie diese.
„Ich hoffe, die Wartezeit war nicht allzu lang." Selbst sein Lächeln wirkte unschuldig. „Ich habe so selten Kunden, dass ich mich wieder in meinem Lagerraum zurechtfinden musste."
„Keine Sorge, wir konnten uns die Zeit vertreiben." Viggo wechselte von einer Sekunde auf die andere zurück in die Rolle des Geschäftsmannes; selbst sein altes Grinsen kehrte zurück.
Manche Masken wurden solange getragen, dass sie sich nie ganz ablegen ließen.

„Vier Goldmünzen?", hakte Lova mit einem warmen Lächeln nach, „Fünf, wenn du kein Wort über unser Aufeinandertreffen verlierst."
Der Mann erstarrte in der Bewegung, seine Augen weiteten sich und wanderten von Lova zu Viggo. „Was sollte hierran besonders sein?", fragte er, fast ängstlich, „Ich möchte mir keinen Ärger ins Haus holen."
„Das wirst du nicht, wenn du ihr Angebot annimmst." Viggo fischte die vier Münzen vom Tresen und zog eine weitere aus seinen Taschen. Im Schein der Kerzen glänzte das Gold verlockend. „Und selbst wenn du ein loses Mundwerk hast, wird man eher unsere Türen stürmen anstelle deines Ladens. Dieser Austausch birgt kein Risiko für dich."

Aber für euch. Lova konnte den Gedanken auf dem Gesicht des Mannes ablesen. Es war nur ein Flimmern, für den Bruchteil einer Sekunde lang, doch es reichte, um ihr Misstrauen zu wecken.
Der unschuldige, etwas dümmliche Ausdruck machte für einen Moment etwas anderem Platz.

Louvisa kannte dieses „Andere" nur zu gut. Finstere Absichten, versteckt oder nicht, hatte sie schon oft gesehen. Es waren winzige Veränderungen im Gesicht eines Menschen, die unumstößliche Hinweise lieferten. Natürlich war es schwer, hinter die Maske eines talentierten Schauspielers zu blicken, doch Viggo Grimborn selbst war fast drei Jahre lang ihr größter Gegenspieler gewesen. Lova hatte vielleicht nicht immer gewusst, worauf sie achten musste, doch sie hatte es gelernt.
Da war das tiefe Schwarz von Pupillen, die sich gierig weiteten, wenn man ihnen eine Verlockung vor die Nase hielt. Mundwinkel, die vor Stolz über eine gute Vorstellung verräterisch zuckten oder eine Körperhaltung, die einstudiert und steif wirkte.
All diese Aspekte spielten sich vor ihrem inneren Auge ab, während sie in Gedanken bis an den Anfang ihrer Konversation zurückspulte. Die unbeholfenen Komplimente, die übertriebene Freundlichkeit, die harmlose Tollpatschigkeit... Es war zu unbedarft, um echt zu sein.
Lova erstickte ein Keuchen hinter zusammengepressten Zähnen und packte Viggos Hand so fest, dass ihre Fingernägel sichelförmige Abdrücke hinterließen. „Kennst du uns?"

Die Frage kam über Lovas Lippen, ehe sie sich zusammennehmen konnte, doch weder Viggo noch der Schneider wirkten überrascht. Wenn Viggos Gesicht etwas ausdrückte, dann höchstens milde Belustigung, als wüsste er bereits, was gleich geschehen würde. Andererseits... Lova hatte die dunkle Ahnung, dass sie das ebenfalls tat.

„Jeder kennt euch", gab der junge Mann zurück, „Es ist unmöglich, die Nördlichen Marktinseln zu bewohnen, ohne Geschichten über Viggo Grimborn zu hören." Er schenkte Lova ein knappes Nicken. „Und Louvisa von Vernell, selbstverständlich, die Frau, die für den Anführer der ehemaligen Drachenjäger selbst die Todesgöttin betrügen konnte." Der Schneider legte die Kleiderbündel sorgfältig über dem Tresen ab und machte sich an den Taschen seiner Tunika zu schaffen.

„Es gibt nur eine einzige Kleinigkeit, die häufiger genannt wird als die Geschichte über Grimborns angeblichen Tod." Das freundliche Lächeln verschwand endgültig und wurde durch ein genüssliches Grinsen ersetzt, als der Mann ein verblichenes Pergament entrollte.
„Der Preis, der auf seinen Kopf ausgesetzt ist."

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