Kapitel 1

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Die Laken neben Lova waren leer und kalt, die Bettdecke lag zerwühlt zu ihren Füßen. Durch die geöffneten Fensterläden drang der Wind ein, fuhr über ihre bloßliegende Haut und ließ sie frösteln. Es war so früh am Morgen, dass die Sonne nicht mehr war als ein blassgelber Streifen Licht am Horizont. Zwischen grauen Wolkenfetzen leuchteten noch die letzten Sterne.

Lova gähnte und kniff die vom Schlaf verklebten Augen zusammen. Eine Gänsehaut überzog ihre Arme; viel fehlte nicht mehr, und ihre Zähne würden klappern.

„Zu Hel mit diesem verdammten, nordischen Herbst", knurrte sie und zog die Decke wieder bis über ihre Schultern. Der Stoff war klamm und wärmte kaum, Frost hatte sich auf ihm ausgebreitet und schimmerte silbern im matten Licht. Lova wusste, dass sie die Fenster schließen sollte, doch jeder Muskel in ihrem Körper protestierte gegen die damit verbundene Bewegung. Sie konnte sich nur dazu aufraffen, die Nase in ihrem Kissen zu vergraben. Es roch nach Harz und Kiefernholz, ein Geruch, der sie jede Nacht in den Schlaf wiegte. Der ihr wohlbekannte Duft war allerdings schwach, als hätte der Wind ihn mit sich genommen, ihn davon geweht.

Lova runzelte die Stirn und kämpfte sich aus der Müdigkeit hoch, die tief in ihren Gliedern steckte. Ihre Trägheit war nicht vollends verschwunden, als sie die erkaltenden Laken abtastete, aber ihre Sinne wurden langsam klar. Dort, wo sich sonst ein wärmender Körper an sie schmiegte und sie vor der Herbstluft abschirmte, blieb eine leere Kuhle zurück. Sie war allein.

Das war, an und für sich, keine ungewöhnliche Tatsache. Sie wachte oft allein in ihrem Bett auf, wenn die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Ein Feuer prasselte dann im Kamin, die Flammen spendeten Licht und Wärme. In dem kleinen Schlafzimmer duftete es nach Brot und süßer Marmelade und wenn Lova sich schlaftrunken die Augen aufschlug, sah sie als Erstes die nachdenkliche Miene, mit der Viggo sein Spielbrett betrachtete. Er war ein Frühaufsteher, sie eine Langschläferin. Seit dem letzten Sommer konnte sie das auch endlich wieder sein, ohne von Albträumen geweckt zu werden. Albträume, die oft - aber nicht immer - ihre eigenen waren.

An diesem Morgen gab es weder Feuer, noch Albträume, und auch kein Frühstück wartete auf ihrem Nachttisch. Lova warf einen hoffnungsvollen auf den Schreibtisch, doch dieser war leer. Figuren aus Viggos geliebtem Keule-und-Klaue standen verwaist neben einem leeren Becher Honigwein. Beides Überbleibsel des letzten Abends; eine gewonnene Partie für Lova und ein Becher Met für Viggos gekränktes Ego. Sie hatte Wochen gebraucht, um ihren ersten Sieg gegen ihn zu erringen, und bei der Erinnerung schlich sich ein stolzes Grinsen auf ihre Lippen.

Allzu bald wurde dieses durch Sorgenfalten auf ihrer Stirn abgelöst, denn nichts hiervon erklärte, warum sie allein war.

Lovas Blick wanderte weiter zu dem Kleiderstapel vor der Kommode - ihr Hemd fehlte - und zu der Zimmertür aus Fichtenholz. Vor dem dunklen Braun hob sich wie ein heller, fast weißer Gehstock wie ein unerwünschter Fremdkörper ab, und die Wikingerin seufzte. Da hatte sie ihre Antwort. Es hatte ja niemand gesagt, dass ihr diese gefallen würde.

Sie schwang die Beine aus dem Bett und zog eine Hose aus der vorletzten Kommodenschublade. Der Saum flatterte auf Höhe ihrer Knöchel, als Lova fluchend hineinschlüpfte. Auf ihren Waffengürtel verzichtete sie. Die Dolche verstaubten gemeinsam mit ihrem Bogen schon seit fast fünf Monaten in einer Ecke. Stattdessen fischte sie Viggos Tunika aus dem Kleiderstapel und klemmte sich den Gehstock unter den Arm. Mit einer Hand löste Lova ihren verhedderten Zopf aus den Ärmeln der Tunika, mit der anderen schob sie die Tür auf.

Sowohl der schmale Flur, als auch die Treppe waren nicht beleuchtet, die Kerzen in den Laternen ausgebrannt. Nur von einem zerlaufenen Wachshaufen ging noch ein sanftes Glimmen aus, welches Lova die ersten Stufen herab führte. Danach war sie auf ihre Instinkte angewiesen. Das Holz unter ihren nackten Füßen fühlte sich rau an, und der Gehstock stieß bei jedem Schritt gegen das Geländer. Neben ihren eigenen Atemzügen und dem unbarmherzigen Wind, der an den Hüttenwänden rüttelte, war das alles, was Lova hören konnte.

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