Die grauen Metallstäbe bohrten sich in das dunkelgrüne Gras und hinterließen tiefe Furchen, wann immer die Drachen sich gegen ihre Gefängnisse warfen. Zwischen den endlosen Reihen von Käfigen wurde Lova von dem Gefühl überwältigt, in dem knöchernen Gerippe eines weiteren, deutlich größeren Drachens eingesperrt zu sein. Dabei war es nicht hilfreich, dass auf jeden ihrer Schritte wütendes Fauchen folgte und die Feuerstöße der gefangenen Echsen den Boden unter ihren Füßen in Asche verwandelten. Über alldem lag der Gestank nach geronnenem Blut, Schimmel und Verwesung. Das Leid war beinahe greifbar.
„Ich hasse es hier", murmelte Lova und verstärkte ihren Griff um Viggos Hand. Ihre Handflächen waren schweißnass – jede Illusion von Selbstbewusstsein und Mut war mit dem ersten Schritt in diesen wahr gewordenen Albtraum verschwunden. „Warum sollte ein Mensch das Bedürfnis haben, sich mit solchem Leid zu umgeben?"
Der Skrill, über dessen Schnauze tiefblaue Blitze zuckten, stieß ein zustimmendes Grollen aus. Es war seiner Anwesenheit zu verdanken, dass die Flammen der Drachen sie nicht längst zu einem Staubhaufen verarbeitet hatten. In seinen gelben Augen flackerte der Zorn ebenso hell wie die Angst.
Selbst Viggo, der gegenüber dem Leid fremder Drachen normalerweise ziemlich abgestumpft war, stand die Abscheu ins Gesicht geschrieben. Obwohl seine Fingerspitzen sanft und kontinuierlich über Lovas Handrücken strichen, sprach der Ausdruck in seinen Augen eine andere Sprache. Falls es einen bildlichen Beweis gebraucht hätte, um seine Entwicklung zu bezeugen, so wäre dieser ein sehr beeindruckendes Beispiel.
„Purer Sadismus", erwiderte er. „Eine andere Erklärung gibt es nicht."
Lova erschauderte, als ihr Blick auf den abgemagerten Körper eines Nadders fiel. Unter den von Staub und Dreck bedeckten Schuppen stachen die Rippen hervor, die hellen Augen waren verkrustet und blutunterlaufen. Die Flügel waren von eiternden Wunden übersät, und weil das an Grausamkeit nicht ausreichte, wies ihre geringe Spannweite eindeutig auf einen Jungdrachen hin.
Der Nadder war so klein und unterernährt, dass er sich nur schwankend auf den Beinen halten konnte, seine Krallen wiesen Fehlbildungen auf, weil er den Großteil seines Lebens auf Gitterstäben verbracht haben musste.
Der Anblick reichte, damit Lova erstarrte.
„Das ist widerwärtig", stieß sie hervor. Ihr Blick klebte an dem verwundeten Drachen, der in seinem schlechten Zustand kaum den nächsten Tag erleben würde. Sie war unfähig, sich abzuwenden.
„Sieh nicht hin." Viggo besaß mehr Selbstbeherrschung als sie, nur ein leises Wanken seiner sonst klaren und deutlichen Stimme deutete darauf hin, dass ihn der Anblick ebenso verstörte. „Wir können ihm nicht helfen, Liebste." Seine Fingerkuppen schickten Wärme und Halt gleichermaßen durch ihren Körper, als er die Hände auf ihre Schultern legte. Sanft dirigierte Viggo ihren Blick zu ihm, weg von dem sterbenden Drachen. „Er wird kaum den nächsten Morgen überleben."
Hinter ihm stieß der Skrill ein ungewohnt hohes Wimmern aus, seine Schwanzspitze fegte über den Boden und zog einen Schleier aus Gras- und Laubfetzen mit sich. Seine Schnauze zuckte, als er die Witterung des Nadders aufnahm und die erlöschenden Blitze auf seinen Schuppen war Beweis genug. Für den kleinen Drachen würde es kein weiteres Morgen geben.
Ein saurer Geschmack breitete sich in Lovas Mund aus, ihr Magen verkrampfte sich und ihre Knie wurden weich. Ein weiteres Mal wanderte ihr Blick zu dem Nadder, und diesmal ließ ihr Körper sie im Stich. Lova spürte noch, wie die Übelkeit überhandnahm, da kauerte sie bereits im Gras und würgte die kläglichen Überreste ihres Frühstücks hervor.
Es war ohnehin kaum mehr als Wasser und Galle – seit Varias Verschwinden hatte Lova nichts außer ein paar Bissen zu sich nehmen können. Dieser Umstand rächte sich nun; ihr Herz raste und mit ihren zitternden Beinen war sie nicht in der Lage, aufzustehen. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen und hinterließen einen salzigen Film auf ihren Lippen. Ihr eigenes Schluchzen übertönte beinahe die wütenden Laute der gefangenen Drachen.
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Forget-me-nots
FanfictionEinige Monate sind vergangen, seit Viggo und Lova auf der Insel der Beschützer Zuflucht gefunden haben. Doch nicht nur das Misstrauen von Königin Mala zerren an den Nerven der Beiden, sondern auch alte Feinde und Erinnerungen, die sie lieber begrabe...