Kapitel 46

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 „Was weißt du über die Drachenjäger aus dem Westen?" Viggo nahm Louvisa die Frage ab, ehe sie diese erneut stellen musste. Er konnte ihr ansehen, dass sie nicht an einem erneuten Verhör interessiert war, sondern lediglich an Antworten. Und seit sie den sterbenden Nadder gesehen hatte, war die Farbe noch nicht in ihr Gesicht zurückgekehrt. „Wir wissen bereits, dass du deine Drachen bei ihnen erwirbst, also erspare uns die Zeit und antworte ehrlich."

Der Sammler hob abwehrend die Hände, bis die Ärmel seines Hemdes herunterrutschten und einen dürren Arm voller Dreckschlieren entblößten. In Körperkraft könnte er sich weder mit Viggo, noch mit Lova messen, doch das war bedauerlicherweise nicht einmal nötig – solange er noch Informationen hatte, musste er am Leben bleiben.

„Ich hatte nicht vor, zu lügen", sagte der Sammler mit einem schiefen Grinsen. In seinem Oberkiefer fehlte ein Schneidezahn, und der andere war braun und verfault. „Wie gesagt, ich will nicht sterben."

Ein scharfer Windzug wirbelte Viggos Haar auf, als Lova hinter ihm hervortrat und den Sammler mit vor Wut funkelnden Augen musterte. Der Bogen in ihren Händen war gespannt, die Sehne grub sich tief in ihre Fingerkuppen – eine winzige Bewegung ihres Fingers, und der Pfeil würde sein Ziel mit Leichtigkeit finden. „Wenn du nicht sterben möchtest", sagte Lova gedehnt, „dann solltest du auf die Anweisungen meines Mannes hören; er will Antworten, und das sofort."

Die Anweisungen meines Mannes.

Viggo konnte nicht verhindern, dass sich diese vier Worte in seinem Kopf wiederholten und seine Aufmerksamkeit für einen Augenblick von dem Sammler ablenkten. Obwohl es absurd und vermutlich auch ein wenig erbärmlich war, wollte Viggo diesen Satz wieder und wieder von Lova hören. Er wollte es so sehr, dass er beinahe die Erwiderung des Mannes überhört hätte.

„Ich kaufe meine Waren von ihnen", sagte der Sammler und klopfte beiläufig gegen die Gitterstäbe des Metallkäfigs neben ihm. Der Gronckel, der darin kauerte, presste sich dabei verängstigt in eine Ecke, während blutiger Speichel aus seinem Maul rann. Er war ein weiteres Beispiel für einen Drachen, dessen Tage gezählt waren. „Aber mehr auch nicht. Die neuen Jäger sind keine angenehmen Zeitgenossen, und ihr Anführer... Mit dem will ich nichts zu tun haben."

Viggo tauschte einen wissenden Blick mit Lova. Sie dachten an dasselbe; der Sammler redete von Illian, dem bisher gesichtslosen Oberhaupt der westlichen Drachenjäger und dem Strippenzieher hinter all den seltsamen Ereignissen der letzten Wochen. Doch während Viggos Interesse an dem Unbekannten mit jeder neuen Information stieg, verzog Lova angewidert das Gesicht. Sie war nicht darauf aus, Illian kennenzulernen. Viggo dagegen... er würde lügen, wenn er behaupten würde, dass er den Urheber hinter all den Verstrickungen, Mordanschlägen und Plänen nicht treffen wollte. Und war es nur, um ihn eigenhändig auszuschalten.

Viggo war Intelligenz und Intrigen schon immer zugeneigt gewesen – derart zugeneigt, dass er gelegentlich seine eigene Sicherheit vernachlässigt hatte. Lovas nachvollziehbares Misstrauen würde ihn allerdings von jeglichen Dummheiten abhalten – und wenn nicht sie, dann Viggos eigene, innere Stimme, die genau wie Louvisa klang.

Lovas sehr reale Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen: „Weißt du, wo sie ihren Stützpunkt haben?", fragte sie. „Oder kennst du jemanden, der es wissen könnte?"

Das Grinsen des Sammlers wurde breiter, bis es eine weitere, unvollständige Zahnreihe offenbarte. „Eigentlich sollte ich es nicht wissen", erklärte er, doch der Stolz in seinem Blick verriet bereits, dass es dabei nicht bleiben würde. „Aber ich habe die zwei Jäger belauscht, die mich beliefern. Sie treffen sich in Tyrs Klippen, kaum einen halben Tag weg von hier."

Tyrs Klippen – der Begriff weckte bei Viggo unerwünschte Assoziationen. Es war ein raues Gebiet, dass sich nur für sehr erfahrene Seefahrer eignete – die scharfkantigen Felsen und schroffen Winde vor dem Ufer hatten ihn einige Schiffe gekostet. Ob es dort tatsächlich Drachen gab, hatte er nie erfahren, doch die ungastliche Insel bestand zu einem Großteil aus Bergen, Schluchten und grauem Gestein. Es war einer der letzten Orte, an dem Viggo nach den Jägern gesucht hätte.

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