Kapitel 4

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Viggo stand vor der Schlafzimmertür, wissend, dass Lova auf ihn wartete. Seine Hand ruhte auf dem Knauf, seine Knöchel traten weiß hervor und die sichelförmigen Abdrücke seiner Fingernägel gruben sich in das Holz. Er wagte es nicht, sich zu rühren. Der pulsierende Schmerz, der von den Pfeilwunden auf seinem Rücken ausging, wanderte bis zu seinen Fußspitzen und machte jeden Schritt unmöglich.

Schon seit Wochen kämpfte Viggo mit dem Verlust seiner einstigen Stärke und es war nicht hilfreich, dass er die Übungen mit Adaja, die seine Muskeln wiederaufbauen sollten, verlegt, aufgeschoben und abgesagt hatte, bis ihre Versuche endlich im Sand verliefen. Jeder Blick ihrerseits grub sich zischend in seine Haut wie ein Brandzeichen, eine Marke, die ihn für seine Schwäche verhöhnte. Wo war der stolze Stratege, der gefürchtete Geschäftsmann, der berüchtigte Drachenjäger geblieben, der Viggo einst gewesen war? Die nächste Generation von Beschützern würde sich bei dem Klang seines Namens an den gebrochenen Mann erinnern, der sich ohne einen Gehstock nicht auf den Beinen halten konnte.

Von dem gefährlichsten Mann des ganzen Inselreiches wurde Viggo einem Nichts degradiert, gänzlich unbeachtet seiner vorherigen Taten.

Ein stechender Kopfschmerz bohrte sich in seinen Schädel und Viggo ging ächzend in die Knie. Die Welt drehte sich vor seinen Augen, sein Griff um den Türknauf verstärkte sich. Viggos Handgelenk gab ein widerwärtiges Knacken von sich, als er gegen die Wand sank, ohne seine Finger von dem Knauf zu lösen. Seine Muskeln gehorchten seinen Befehlen nicht mehr. Er kauerte auf dem Boden wie das erbärmliche Nichts, zu dem er geworden war, und die Maske des skrupellosen Geschäftsmannes existierte nicht mehr. Es gab nichts, was Viggo vor seinem eigenen Versagen abschirmen konnte.

„Viggo?"

Lovas Stimme war voller Sorge und durch die dünnen Holzwände hörte er erst das Bett, dann die Dielen knarzen, als sie sich erhob und auf die Tür zu ging.

„Ist alles in Ordnung?"

Das Blut in seinen Adern gefror zu Eis. Wenn sie ihn sehen würde, wenn sie sich erstmals bewusst werden würde, was aus ihm geworden war...

„Selbstverständlich", rief Viggo und schlüpfte automatisch in seine alte Rolle zurück. „Gib mir einen Moment, Liebste, ich muss..." Er stockte, seine Silberzunge ließ ihn zurück und seine Kopfschmerzen wurden schlimmer.

„Du musst...?", fragte Lova verwirrt.

„Ich..." Das Wort kam kaum über seine Lippen, die Pause zwischen ihnen zog sich in die Länge. Ironischerweise war es schwerer, sie anzulügen, wenn er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Vielleicht es daran, dass Viggo sich dann nicht versichern konnte, dass er nicht umsonst in seinen eigenen Lügen erstickte. „Ich kann nicht..."

„Brauchst du Hilfe?" Die Tür wurde aufgeschoben, das warme Licht von Kerzen erfüllte den Gang durch den schmalen Spalt. Lovas Gesicht erschien bereits im Türrahmen, sie blinzelte, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Sorge überschattete das Leben in ihren Augen. „Bist du verletzt?"

„Nein", stieß Viggo hervor, hielt das Wort vor sich wie einen Schutzschild. „Es geht mir..."

Er hatte sich geirrt. Ihr Gesicht zu sehen half ihm nicht dabei, erneut zu lügen. Sätze, ganze Monologe, die ihm früher so leicht über die Lippen gegangen waren, brannten wie Säure in seiner Kehle. Mit aller Kraft, die Viggo aufbringen konnte, schob er die Tür vor Lova zu.

„Ich kann nicht", wiederholte er keuchend. Er ertrug es nicht, diese Angst in Lovas Augen zu sehen. Viggo hatte geglaubt, dass er sie nie wieder so würde sehen müssen. „Ich kann es nicht ertragen, wenn du mich so ansiehst."

„So ansiehst?", wiederholte Lova fragend. Gedämpft drang ihre Stimme durch die Tür und ein Rascheln verriet, dass sie sich an dem kühlen Holz anlehnte. „Wie sehe ich dich an?"

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