Prolog

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Das Lager der Drachenjäger lag verlassen da. Die Käfige waren leer, die Türen verriegelt, verstreute Waffen und Haushaltsutensilien zeugten von einem überstürzten Aufbruch. In der Luft allerdings hing der Gestank nach verbranntem Fleisch und rohem Fisch, als hätten sich an diesem Ort vor wenigen Stunden noch ein normales Lagerleben abgespielt. Der unbarmherzige Wind, der an Lovas Kleidung zerrte, hätte den Geruch anderenfalls schon längst verweht.
Misstrauisch ging die Wikingerin neben einem umgekippten Feuerkessel auf die Knie und strich mit dem Finger über den kupfernen Rand. Asche blieb an ihrer Haut kleben, färbte sie grau, und Lova runzelte die Stirn. „Das Feuer ist noch nicht lange ausgebrannt", stellte sie fest und pustete gegen die zurückgebliebenen Kohlen. Augenblicklich züngelten Flammen aus der Glut hoch, deren träges Glimmen einen weiteren Hinweis lieferte. „Es kann erst kurze Zeit her sein, dass die Jäger aufgebrochen sind."

Lova konnte Viggos Schritte hören, als er hinter sie trat und sich über den verbeulten Feuerkessel beugte. Seine schweren Stiefel wirbelten Staub auf, der sich bei genauerem Hinsehen als Ruß entpuppte. „Das kann nicht sein", erwiderte Viggo skeptisch, doch er konnte die Fakten nicht abstreiten. Auch unter seinen Händen war das Metall noch warm von den Flammen, die bis vor kurzem noch darin gebrannt haben mussten.

„Nun, du kannst die Wahrheit gern als Lüge bezeichnen, aber das ändert nichts daran, dass ich recht habe", gab Lova zurück und erhob sich. Eine feine Ascheschicht hing an dem Saum ihres Mantels, doch das helle Grau hob sich kaum von dem schwarzen Stoff ab. „Die Jäger müssen kurz vor uns geflüchtet sein. Freiwillig aufgebrochen sind sie sicher nicht..." Sie ließ den Blick über die Überreste des Lagers schweifen, über die verlassenen Zelte und die zurückgelassenen Gegenstände. Etwas war seltsam, doch sie kam nicht darauf, was es war.

„So sieht es jedenfalls nicht aus", stimmte Viggo ihr zu, doch sein zweifelnder Tonfall zeigte Lova, dass auch er Zweifel hatte. „Hast du andere Theorien?", fragte sie, fröstelnd gegen den kalten Wind. Ein Gewitter lag in der Luft, sie konnte den Regen bereits schmecken. Der Sturm näherte sich vom Meer her, also würde nahte nicht nur ein Unwetter, sondern ein regelrechter Wolkenbruch heran. Es blieb nur zu hoffen, dass es die einzige Katastrophe bleiben würde.

„Ich habe immer andere Theorien", sagte Viggo. „Aber eine ist unnützer als die andere."

Lova seufzte tief und lehnte sich gegen ihn, ihre Hände verschränkten sich mit seinen. „Also ist die Flucht am wahrscheinlichsten?", hakte sie nach, obwohl ihr Bauchgefühl ihr vehement widersprach. „Jahrelange Erfahrung zeigte mir, dass die wahrscheinlichste Lösung selten jene ist, die auch tatsächlich zutrifft", antwortete Viggo. „Aber bis wir die Wahrheit wissen, müssen wir uns damit zufriedengeben – wenn wir sie jemals erfahren."
„Es ist nur schade um die Drachen", sagte Lova und betrachtete die leeren Käfige. Es konnte nicht lange her sein, dass diese Gitterstäbe die tödlichsten Lebewesen des Inselreiches beherbergt hatten, doch das blaugrüne Metall blieb der einzige Hinweis auf die Gefangenschaft der Echsen. Wie ein Gerippe lagen sie da, zerbeult und voller Rost, gezeichnet von Feuer, Krallen und Zähnen. „Wegen ihnen waren wir schließlich hier."

„Wir können sie nicht alle retten", gab Viggo zurück, so pragmatisch wie eh und je. „Auch, wenn ich das gern tun würde." Lova nickte und seufzte erneut. „Ich wünschte nur, wir hätten diese Reise nicht umsonst auf uns genommen", sagte sie, Frustration hatte sich in ihre Stimme geschlichen. „Ein tagelanger Flug, und das alles für nichts, nichts und wieder nichts!" Lova schnaubte und warf die Hände in die Luft. „Wie konnten sie die Drachen überhaupt mitnehmen, wenn sie doch augenscheinlich geflohen sind?"

„Vermutlich wollten sie ihre einzige Geldquelle nicht zurücklassen", schlug Viggo vor und zuckte die Schultern. „Oder die Käfige waren bereits leer. Wer weiß schon, wann ihre Käufer hier eintrafen? Sonderlich viele Drachen kann es hier nicht geben." Er spielte auf die zerklüftete Landschaft an, die kaum Platz für Wiesen und Wälder bot. Die Klippen erstreckten sich bis zum Ufer und fielen steil ab, sodass es nicht einmal einen Strand gab, an welchem sich Vögel tummeln könnten. Zwischen der rauen Felslandschaft floss nur gelegentlich ein dünnes Rinnsal Süßwasser, kaum genug, um den Durst eines Schrecklichen Schreckens zu stillen, von größeren Gattungen ganz zu schweigen. Dennoch... Lova runzelte die Stirn. „Die Meere sind voller Fische", warf sie ein. „Es würde mich nicht wundern, wenn die Jagd nach Drachen der Gezeitenklasse überaus erfolgreich gewesen wäre."

„Drachen der Gezeitenklasse?", wiederholte Viggo zweifelnd. „Schwer zu fangen, und noch schwerer in einen Käfig zu zwängen. Sie erreichen unglaubliche Größen, ihre Appetit ist enorm und um zu überleben, muss ein Zugang zum Meer gewährleistet werden. Für einen Kampf in der Arena sind sie auch nicht geeignet, und trotz ihrer Seltenheit ist ihr Marktwert denkbar gering."

„Irgendwas müssen die Jäger ja hier gewollt haben", konterte Lova und ließ ihren Blick über das Meer schweifen. Die Wellen brachen gegen die Klippen, ihre Schaumkronen hoben sich weiß von dem dunklen Graublau des Wassers ab. Hin und wieder blitzten die silbernen Schuppen eines Fischschwarms auf, der ihre Vermutungen bestätigte; an Nahrung würde es den hier heimischen Drachen nicht fehlen. „Es könnten Nistplätze gewesen sein. Gebiete wie diese garantieren eine sichere Aufzucht, da es normalerweise keine Menschen oder andere Tiere gibt, die die Ruhe stören könnten. Wie steht es mit den Preisen für Drachenjunge?"

„Nicht schlecht", gab Viggo zu. „Zumindest meines Wissens nach." Er schlang die Arme um ihre Hüfte und zog sie näher zu sich, stützte sein Kinn auf ihrem dunklen Haarschopf. „Das würde auch die leeren Käfige erklären; die Brutzeit ist längst vorüber. Nur kann ich mir noch immer nicht erschließen, wieso die Jäger so plötzlich aufgebrochen sind. Keine Drachen bedeutet keine Gefahren, und das Meer bietet eine sichere Nahrungsquelle. Sie hatten alle Zeit der Welt, um ein neues Lager aufzuschlagen."

„Vielleicht sind sie auch nicht plötzlich aufgebrochen?", schlug Lova schulterzuckend vor. „Du kennst die vorherrschende Mentalität doch gut genug. Vermutlich sind sie einfach gegangen, wann es ihnen passte." Viggo schnalzte zweifelnd mit der Zunge. „Glaubst du das wirklich? Es kommt mir nicht sonderlich realistisch vor, wenn ich ehrlich bin. All die Waffen sind sicher noch zu gebrauchen, und Gold wächst bekanntlich nicht auf Bäumen. Außerdem erklärt das nicht, warum in die Feuerkessel noch warm sind von den Flammen. Warum hätten sie..."

Doch Lova lauschte seinen Worten nur noch mit halbem Ohr.
Eine Regung zwischen den verlassenen Zelten hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie hatte aus nur aus dem Augenwinkel bemerkt, ein kurzes Aufblitzen von Farbe, eine Bogensehne, der gespannt wurde. Es war auf ihrer linken Seite.

Lova zögerte keine Sekunde.

Vor ihren Augen kam die Welt zum Stehen, der Wind hielt inne, als würde selbst Yggdrasil den Atem anhalten. In einem Moment kreisten Lovas Gedanken noch in einem wilden Strudel, einem reißenden Fluss, doch dann kam auch ihr Verstand unweigerlich zum Stillstand. Bei dem, was danach geschah, wusste nicht einmal sie, ob es ein Instinkt, ein Reflex oder eine durchdachte Handlung gewesen war. Die eisernen Krallen der Angst schlugen sich in ihr Herz, das Blut gefror in ihren Adern, als Lova den Pfeil sah, der unweigerlich auf sie zuraste. Doch nicht sie war die Zielscheibe. Es war nicht ihre Haut, die durchbohrt werden sollte, nicht ihre Muskeln, die unter der Pfeilspitze zerreißen sollten, nicht ihr Blut, welches den Fels rot färben sollte. Also kämpfte Lova gegen den Drang an, in Deckung zu gehen, als sie Viggo mit einem gezielten Tritt gegen die Kniekehle zu Fall brachte und sich schützend vor ihn stellte.

Sie spürte den Schmerz nicht, als sich der Pfeil in ihre Schulter bohrte. Zuerst bemerkte sie es gar nicht, nur der Anblick des gefiederten Schafts lenkte ihre Aufmerksamkeit darauf. Die ganze Spitze steckte in ihrer Haut, eine klare Flüssigkeit drang daraus hervor und mischte sich mit ihrem Blut. Rot hob sie sich von Lovas Hemd ab, grell und leuchtend.

Ihr wurde schwarz vor Augen, in ihren Ohren hallte das Rauschen der Wellen wieder, laut genug, dass Lova sich fragte, ob sie den Verstand verlor. Übelkeit stieg in ihr hoch und ihre Beine zitterten, nur unter Aufbringung all ihrer Kräfte konnte sie sich aufrecht halten. Sie hörte nichts, sie konnte nichts sehen, ihre Sinne ließen sie im Stich, bis sie nur noch von dem verzweifelten Brennen gehalten wurde, welches sie auf den Füßen hielt. Ihr Magen verkrampfte sich, doch mit dem Gedanken an Viggo drängte sie ihre Schwäche zurück. Kochte das Blut in ihren Adern oder war das nur eine weitere Einbildung?

Lova konnte Schreie hören, die wie ihre eigenen klangen. Ein sengender Schmerz fuhr in Wellen durch ihren Körper, als würde man ihr im Takt ihres Herzschlages die Haut abziehen. Oder verbrannte man sie bei lebendigem Leibe?

Es machte keinen Unterschied, als Lova schließlich doch auf die Knie sank. Unter Krämpfen bäumte sie sich auf, rang nach Luft, presste die Hände auf ihren geschwollenen Hals. Sie konnte nicht atmen, konnte sich nicht gegen die schwarz-weißen Flecken wehren, unter denen ihre Sicht verschwamm. Blind, taub und stumm kauerte sie auf dem Fels, würgend und keuchend, während jeder verzweifelte Atemzug in ihrer Lunge rasselte. Ihr entglitt die Kontrolle, und es geschah so schnell, dass sie sich kaum wehren konnte.

Die Welt drehte sich ein letztes Mal, dann geriet mit einem Rucken alles zurück an den richtigen Platz, als Lova sich endlich in die beruhigende Schwärze fallen ließ. Sie ließ los, und dann fiel sie, und fiel und fiel und fiel, ohne ein Ziel, ohne einen Halt, ohne eine Hoffnung.

In ihrem letzten, klaren Gedanken fragte Lova sich, ob sie sterben würde.

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