Kapitel 11 - Heimkehr

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Er fand den Weg zurück zum Liliths, nachdem er ein oder zweimal falsch gelaufen war. Es war noch früh für seine Verhältnisse und so lag er lange wach auf seiner Matratze. Er fragte sich, ob er das Richtige getan hatte. Konnte man mit jemandem befreundet sein, vor dem man Angst hatte? War es halbwegs vernünftig, sich mit jemandem abzugeben, der einem von Anfang an gerade heraus sagte, dass er einen verprügeln würde, wenn er ab und zu auch ein ganz passabler Kollege war, oder war es einfach nur verzweifelt?

Und als wären die rationalen Fragestellungen nicht kompliziert genug, fühlte er sich auch völlig durcheinander. Das Gefühl, Jaz gar nichts zu bedeuten, hatte ihn kaputt gemacht, aber er hatte sich geirrt, denn offenbar war er einer von zwei Menschen, die Jaz überhaupt etwas bedeuteten. Allerdings war er sich nicht sicher, ob das gut war oder nur hiess, dass Jaz im Allgemeinen ein absolut asoziales Arschloch war. Wobei eigentlich ausser Frage stand, dass er das war. Die Antwort, die wirklich von Bedeutung war, wäre gewesen, wie weit die Ausnahme ging, die er dabei für ihn machte. Falrey hatte den Verdacht, dass Jaz sich darüber selbst nicht wirklich einig war. Anders liess sich seine „Ich töte jeden, der dir schadet, aber vielleicht schlag ich dich nachher nieder"-Mentalität einfach nicht erklären. Als müsste er jede Nettigkeit durch ein paar Schläge ausgleichen. Vielleicht war er auch einfach nur verrückt.

Diese ganze Welt ist verrückt. Die Bürger schufen sich ihre kleine, scheinbare Insel der Ordnung. Der Preis dafür war die Freiheit. Nur wer die Mauern um seinen Geist hoch und dick genug zog, konnte das, was dahinter lag, für nicht existent erklären. Nur wer sich selber einsperrte, sperrte alles andere aus. Es war eine Frage davon, was man wollte: ein beschauliches Leben führen – oder leben. Falrey war sich nicht sicher, zu welcher Seite er gehörte. Er dachte an das Häuschen in den Felder und fragte sich zum ersten Mal nicht nur, ob er es jemals dorthin schaffen würde, sondern ob er es überhaupt schaffen wollte.

Er verwarf den Gedanken wieder. Natürlich wollte er. Er wollte Kinder und er wollte, dass sie an einem guten Ort aufwuchsen, eine Zukunft hatten. Er wollte Liebe. Er wollte etwas, das ihm gehörte, etwas, das er aufbauen konnte, etwas, das blieb, wenn er ging. Wollte nicht sein Leben lang kämpfen müssen, sondern sich irgendwann hinsetzen können und sehen, dass er etwas erreicht hatte, und wenn es noch so klein war.

Er erwachte am Nachmittag und spielte mit dem Gedanken, sofort zu Emilas Haus zurückzukehren, aber es machte nicht wirklich Sinn, wenn er um Meru wieder umgezogen hier sein musste. Was er an Gepäck hatte, konnte er auch nachts noch mitnehmen. Stattdessen kletterte er auf das Dach des Hauses. Er hatte die Leiterluke am dritten Tag, nachdem er eingezogen war, entdeckt, aber er war nie oben gewesen – jetzt im Rückblick betrachtet, wurde ihm klar, dass es ihn einfach zu sehr an Jaz erinnert hatte. Merkwürdig und irgendwie beunruhigend, wie sich jemand innerhalb weniger Monate an so viele Aspekte des eigenen Lebens und Alltags heften konnte, dass man ihm unwillkürlich begegnete, egal wohin man ging.

Ohne Hast ass er das Fladenbrot, das er sich geholt hatte, und genoss die warmen Strahlen der Endwintersonne, während er in eine Surati biss. Es war bereits jetzt, vor der Tag- und Nachtgleiche, wärmer als in den Wäldern im Frühsommer. Der Sommer würde heiss werden. Falrey erinnerte sich an all die Tage, die sie auf irgendwelchen Märkten verbracht hatten, auf der Suche nach seinem Vater. Er fragte sich, ob dieser Mann irgendwo da draussen war, unter dem Dächermeer, das sich um ihn herum ausbreitete. Ob er sich die selben Fragen stellte wie er. Ob er zurechtkam mit dem Leben. Ob Charakter und Schicksal erblich waren. Ob er auch Freunde hatte, von denen er nicht wusste, ob sie ihn mochten oder ihn am liebsten abstechen würden.

Er nagte den letzten Bissen Fruchtfleisch vom Stein und wog ihn einen Moment in der Hand, dann holte er aus und warf ihn über den Platz, so weit er konnte, bevor er hinunter stieg, um sich für die Arbeit umzuziehen. Es war ein unspektakulärer Abend und nachdem die letzten Kunden gegangen waren, schloss er die Türe und löschte die Lampen, bevor er hinauf in seine Kammer stieg, um sich umzuziehen und den Rucksack zu holen. Er hatte ihn bereits gepackt, trotzdem sah er sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hatte und das Zimmer im ursprünglichen Zustand zurückliess, zumindest abgesehen von der geflickten Matratze. Die Arbeitskleider deponierte er in der Besenkammer im Erdgeschoss, die er früher schon benutzt hatte, dann machte er sich auf den Weg.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt