Kapitel 36 - Süss

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Nemi tippte den Pinsel in die blaue Farbe und zog eine feine, leicht transparente Schattenlinie unter den Griff eines Handkarrens. Falreys Blick folgte ihren Handbewegungen und wanderte, in ihrer Konzentration unbemerkt, hinauf zu ihrem Gesicht. Sie sassen in der Küche des Badehauses und das Licht, das durch das Fenster einfiel überstrahlte jenes des Herdfeuers, nur auf Nemis dunklem Haar war ein schwacher Reflex des Flackerns auszumachen. Eine Strähne hing ihr halb in die Augen und sie schob sie mit dem Handrücken zurück, bevor sie aufsah und seinen Blick auffing. "Bist du sicher, dass du nicht auch was malen willst?"

"Ich sehe gerne dir dabei zu", erwiderte er kopfschüttelnd. Eigentlich war genau das sein Plan gewesen, als er vorgeschlagen hatte, für einmal nicht spazieren zu gehen. Er hatte ihre Bilder gesehen, er wollte auch sehen, wie sie entstanden, was sie fühlte beim Malen, was sie hineinlegte. Womit er nicht unbedingt gerechnet hatte, war, dass er zu beschäftigt war damit ihre Schönheit zu betrachten, um den Rest wirklich zu beachten. Es war, als würden ihre Lippen, ihre Brauenbögen und Wimpern seinen Blick anziehen, zu schön, um sie auch nur einen Atemzug nicht anzusehen, wenn er schon die Gelegenheit dazu hatte. Als würde in seinem Blickfeld etwas fehlen, wenn er es auf etwas anderes richtete.

Sie musterte ihn skeptisch. "Sicher?"

"Ja. Ich kann das eh nicht", meinte er. "Ich habe nie mit solchen Farben gemalt." Er nickte auf die Tonscherbe, auf der sie die Pigmente angemischt hatte mit einer Flüssigkeit. Öl, Wasser und Ei zu gleichen Teilen, das war Tempera, hatte sie ihm erklärt. Sie verwendete normalerweise weniger Ei oder liess es, wie jetzt, ganz weg.

Ein Rumpeln ertönte, als Nemis Mutter beim Putzen im oberen Stock ein Möbelstück verschob. "Ich kann dir zeigen, wie es geht", wandte Nemi ein.

"Hm, ein anderes Mal vielleicht", meinte er. Um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde sich langweilen, griff er nach einem der noch unbemalten Blätter auf dem Stapel neben ihr. Es waren alte Teile von Eiruns Buchhaltung und über die Seiten zogen sich in mehreren Kolonnen Daten, Namen und Anmerkungen. In unteren Teil hatte der Badehausbesitzer seine Einkäufe aufgelistet, Seifen, Bürsten, Feuerholz, ein Dutzend neue Handtücher. Im oberen trug er die Besucher ein. Falrey betrachtete das Datum vor den Eintragungen und begriff, dass die eine, immer gleichbleibende Zahl für das Jahr stehen musste. Fünfhundertvierzehn. Das Blatt war elf Jahre alt!

Faszinierender als das war allerdings die Tatsache, dass Eirun sich tatsächlich die Mühe machte, jeden einzelnen Kunden des Badehauses mit Namen und Badedauer aufzuführen. Falrey überflog die Reihe. Einige Namen kamen ihm bekannt vor, andere nicht. Er fand Pajar, der zu dem Zeitpunkt noch keine zwanzig gewesen sein konnte, Garia und Aio und blieb an einer Zeile hängen, in der in feinsäuberlicher Kursivschrift Oberst Mistrevillion eingetragen war. Er blickte auf. "Wie lange lebt Misty eigentlich schon hier?"

"Keine Ahnung", antwortete Nemi. "Schon immer, seit ich mich erinnern kann."

"Und erzählt er schon immer dieselben Geschichten?"

"Ja", erwiderte Nemi. "Allerdings kennt er ziemlich viele, also wiederholt er sich nicht allzu oft."

Falrey beschloss, bei Gelegenheit seine vernachlässigten Kontakte zur Nachbarschaft zu pflegen. Vielleicht wusste irgendjemand etwas, das einen Hinweis darauf barg, was Misty wirklich erlebt hatte.

Er blickte weiter und bekam beinahe einen Lachanfall, als er die übernächste Zeile las. Nemi sah ihn fragend an und er schob ihr das Blatt hin, den Finger auf die Stelle gelegt. "Dein Vater hat Humor."

Offenbar kannte Eirun nicht die Namen aller Leute, die seine Einrichtung besuchten, und wo sie ihm fehlten, griff er zu Umschreibungen wie Dame von vor zehn Tagen, mit Glubschaugen. Zukünftig "Froschhuhn" bis Name bekannt. Falrey fragte sich, was die betreffende Dame davon halten würde, wenn sie jemals davon erfuhr.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt