Kapitel 17 - Wo warst du?!

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Sie marschierten eine Weile lang schweigend in Richtung Nordosten, bis Jaz abbog und auf ein Dach kletterte. Falrey blieb dort zurück, als Jaz sich auf den Weg machte, seinen Auftrag auszuführen, und blickte an den Himmel hinauf. Es war eine dunkle Nacht, kurz vor Leermond, und was von der Sichel noch übrig war, würde erst in den Morgenzeiten aufgehen, während die Fackeln bereits jetzt erloschen. Dennoch wurde es nicht völlig finster, wie nie auf Niramuns Dächern. Irgendwo brannte immer noch Licht und wurde zurückgeworfen von den Wänden, brach sich im Dunst über der Stadt als diffuser Schimmer, und ohne Wolken verschwanden die Sterne niemals.

Falrey legte sich auf den Rücken und blickte hinauf. Es fiel ihm mittlerweile nur noch selten wirklich auf, trotzdem hatte der Gedanke etwas Verstörendes, unter einem ewig klaren Himmel zu leben. Keine Wolken. Kein Regen. Nie. Nur Sonne und Staub.

Er betrachtete seine Hände. Die Trockenheit, die Hitze, und gleichzeitig sprudelndes, kühles Wasser aus jedem Brunnen der Stadt. Es widersprach sich immer noch in seinem Geist, fühlte sich falsch an, künstlich. Vielleicht würde sich das legen, wenn er irgendwann einmal diesen Fluss gesehen hatte – er nahm sich vor, ihn das nächste Mal wenn er frei hatte zu suchen, vielleicht würde Jaz mitkommen, oder sogar Nemi – andererseits... woher kam dieser Fluss überhaupt? Nicht einmal Misty hatte die Antwort gewusst. Beunruhigte es denn niemanden, dass ihrer aller Leben von etwas abhing, das so unwirklich und unerklärlich war? Die Wälder waren ebenso abhängig vom Sevedra – abgesehen davon, dass es dort auch genügend oft regnete, um mit Zisternen über die Runden zu kommen – aber man wusste auch, wo er entsprang und wie viele Seitenflüsse ihn auf seinem Weg von den Bergen her speisten. Man wusste, dass er nicht einfach versiegen würde von einem Tag auf den anderen, weil das schlicht nicht möglich war. Aber hier? Es war, als würden die Leute jemandem vertrauen, von dem sie nicht einmal wussten, wer er war.

Er fragte sich, was die Menschen dazu getrieben hatte, sich hier anzusiedeln, in einem unzugänglichen Krater mitten in der Wüste. Wie die Leute überhaupt hier herunter gekommen waren, bevor es die Aufzüge gab. Was sie sich erhofft hatten. Wie damals alles ausgesehen hatte. Wer diese Menschen gewesen waren. Die Kinder des Mondes, hatte Nemi gesagt. Geboren aus seinen Tränen. Ihm war klar, dass das nur eine Legende war, er glaubte weder an Magie noch an irgendwelche mystischen Vorzeiten ohne Logik und Naturgesetze, aber viele Legenden hatten einen wahren Kern, einen Grund, warum sie entstanden waren, waren eine Metapher für etwas, was passiert war, eine Erklärung für etwas, was man nicht verstanden hatte.

Wofür also standen die Tränen des Mondes? Trauer? Wasser? Er hatte gehört, das Meer im Norden folgte dem Mond, schwoll auf und ab in seinem Rhythmus als Ebbe und Flut. Waren die Tränen dann die Gischt? Ein Volk, das am Meer gelebt hatte – oder über das Meer gekommen war? Andererseits konnte der Mond für alles stehen, was sich wiederholte, und die Flüssigkeit mit der stärksten Verbindung zu ihm war das Blut. Ein Volk, geboren aus Krieg? Oder steckte dahinter ein wesentlich komplexerer Mythos? Kannte ihn noch jemand, oder war er für immer verschollen?

Stimmen in der Gasse vor ihm rissen ihn aus seinen Gedanken und mehr automatisch, als weil er wirklich einen Grund dazu hatte, rollte er sich auf den Bauch und robbte an die Dachkante. Vier Stockwerke unter ihm stand eine Gruppe junger Männer, die lautstark über irgendetwas diskutierten. Falrey hörte ihnen zu und offenbar ging es darum, dass einer nach Hause gehen und der Rest ihn vehement davon abbringen wollte, wobei sie sich nicht einig waren, ob sie in ein Saufhaus weiterziehen sollten oder in ein Bordell. Die Bordellfraktion gewann und offenbar fand der Heimgeher sich damit eher ab, als sich noch einige Zeiten in einer Halle um die Ohren zu schlagen und dabei Bier zu trinken, von dem er „keinen verdammten Schluck mehr sehen könne ohne zu kotzen", denn er lenkte ein.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt