Kapitel 85 - Ein Kind Yainils

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Er wachte vor dem Mittag auf. Ohne Jaz zu wecken, verliess er das Haus. Er brauchte Zeit. Er musste nachdenken. Denn wie Jaz gesagt hatte: diesmal musste er sich wirklich sicher sein, bei dem, was er tat. Auch wenn Jaz es netterweise nicht so formuliert hatte, war Falrey klar, dass es nicht in erster Linie darum ging, dass er wusste, was er wollte, sondern ob er bereit war, alles zu tun, was nötig war, um es zu erreichen. Es würde nicht einfach werden, würde nicht glatt gehen, egal wie detailliert er plante. Irgendetwas ging immer schief. Er durfte sich davon nicht mehr aufhalten lassen. Er durfte nicht mehr aufgeben und in Selbstmitleid versinken, so wie er es gestern getan hatte. Er musste weiterkämpfen, alles geben, was er hatte. Nicht nur wollen, sondern tun. Konnte er das? Konnte er es wirklich?

Er war sich nicht sicher. Er war kein Jaz, der von irgendwoher immer die Kraft nahm, weiterzumachen. Manchmal fühlte er sich einfach am Ende, sah nicht einmal mehr, wofür er irgendetwas tat, wie Djora es beschrieben hatte. Allerdings erinnerte er sich auch daran, was er selbst Djora erklärt hatte: dass ihn das Pflichtgefühl, das Wissen darum, dass Jelerik und die Mädchen auf ihn zählten, trotz allem dazu gebracht hatten, aufzustehen und seine Arbeit zu machen. Wenn selbst sie dafür ausreichten, würde dann die Verantwortung für Nemi, die ihm so viel wichtiger war, nicht jede Angst, jede Verzweiflung überwiegen?

Er versuchte sich darüber klar zu werden, während er durch die Stadt schlenderte, aber er fand einfach keine richtige Antwort darauf. Schliesslich wurde es zu heiss, um noch irgendeinen Schritt mehr als nötig zu tun, also füllte er seine Wasserflasche und setzte sich auf einem Vordach in den Schatten. Es war etwas kühler hier als unten in der Gasse, wo sich die Luft staute und die erhöhte Lage erinnerte ihn daran, wie er früher manchmal in Bäume geklettert war, um mit den Beinen zu baumeln und vor sich hin zu träumen. Er vermisste es. Die flackernden Schatten, das Rascheln der Blätter, der feuchte Geruch nach Erde und Leben. Den Fluss. Er vermisste alles an den Wäldern ausser den Menschen, die sie bewohnten.

Hier war es immer nur staubig und heiss und es regnete nie. Regen hätte ihm jetzt geholfen. Er vermochte Wut, Angst, Zweifel von einem abzuwaschen, liess den Kopf klar zurück, bereit, nachzudenken, frei und unvoreingenommen von all den Mustern, die sich darin festgesetzt hatten. Bei Yainil, er vermisste irgendeine Form von fliessendem Wasser, von Abkühlung, die nicht nur darin bestand, seinen Kopf in einen Brunnen zu tauchen, der bei den Temperaturen ohnehin nicht mehr kalt war. Bei der Hitze konnte man doch nicht nachdenken!

Seine Gedanken wanderten zum Fluss von Niramun. Einige Atemzüge lang dachte er daran, wie weit der Weg war und wie wenig Schatten es draussen auf den Feldern gab, dann stand er auf und marschierte los. Bis er den Al erreichte, hielt er sich im Schatten der Häuser, wo immer es möglich war, dann wurde die Hitze mörderisch, obwohl er nur die Weste trug. Er fragte sich, den wievielten Sonnenbrand in diesem Jahr er sich vermutlich einfangen würde – und wie irgendjemand es in dieser Jahreszeit aushielt auf den Feldern zu arbeiten.

Tatsächlich schien im Moment kaum jemand unterwegs, die wenigen Arbeiter, die er sah, dösten unter den vereinzelten Obstbäumen entlang der Kanäle. Vermutlich nutzten sie die kühleren Morgen- und Abendzeiten. Vermutlich hätte er das auch tun sollen, anstatt jetzt, in der grössten Mittagshitze in der prallen Sonne unterwegs zu sein. Eine Weile lang dachte er daran, umzukehren, dann fragte er sich, ob er sich nicht stattdessen einfach direkt in einen der matschigen Wassergräben legen sollte, aber schliesslich drifteten seine Gedanken wie bei der Arbeit in den Hochöfen in den Hintergrund, verloren sich irgendwo im Rhythmus seiner Schritte.

Er ging langsam, aber gleichmässig. Wie weit war er so marschiert? Wie viele Wochen, Monate sogar? Erinnerungen trieben an die Oberfläche seines Geistes, an all die Landschaften, die er durchquert hatte, mit der Strasse unter seinen nackten Fusssohlen und dem Rucksack auf seinen Schultern. Hügel, Täler, flache Ebenen, Städte und Dörfer, karge Felsen und fruchtbare Felder, vorbei an Häusern, Klöstern, fernen Wachtürmen. Ihm wurde plötzlich klar, wie viel dort draussen war. Manchmal kam es ihm so vor, als bestünde die Welt nur aus Niramun und den Wäldern, einigen Strassen, die sie aneinander ketteten, und ein paar fernen Inseln, die genauso gut hätten erfunden sein können. Ihm wurde bewusst, wie beschränkt diese Vorstellung war. Da war so viel mehr. Gegenden, die er durchquert hatte, aber von denen er nicht mehr wusste als einige Ortschaftsnamen und an welcher Route sie lagen. Nichts über die Leute, die sie bewohnten, nichts davon, wie sie lebten, woran sie glaubten, über ihre Geschichte, ihre Kultur. Städte, die kaum mehr waren als mystische Worte. Fastara, Lipadena, Novit. Er hatte Bilder in seinem Kopf davon, wie sie aussehen mochten, ohne zu wissen, ob sie auch nur ansatzweise der Realität entsprachen. Niramun, die Wälder, waren nur Flecken am Rand von etwas, das so viel gewaltiger war.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt