Kapitel 26 - Maskeraden

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Falrey lag mit geschlossenen Augen auf seiner Matratze, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und hing seinen Gedanken nach. Jaz schlief noch, er hörte seinen ruhigen Atem, Emila hatte das Haus bereits vor einer Weile verlassen. Er hatte Jaz tatsächlich dazu gebracht, sie zu wecken, als sie in der Nacht zurückgekehrt waren, um nach der Halswunde zu sehen, wie genau wusste er nicht mehr. Auf jeden Fall war es das einzig Richtige gewesen, denn auf Emilas Frage, ob er noch weitere Verletzungen habe, hatte er beinahe beiläufig den Ärmel hochgeschoben und Falrey hätte ihm am liebsten eine gescheuert, denn der Schnitt in seinem Oberarm war bedeutend tiefer als der am Hals, wenn auch weniger gefährlich.

Emila hatte gemeint, sie werde nicht umhinkommen, ihn zu nähen, und ihm Martenbrand angeboten, aber diesmal hatte Jaz abgelehnt und sich stattdessen mit dem Ellbogen an der Tischkante eingehängt und festgeklammert, während sie die Stiche setzte. Falrey hatte danebengestanden und Jaz hatte es zugelassen, obwohl sich Falrey nicht ganz sicher war, ob er ihn nach einem gewissen Punkt überhaupt noch wahrgenommen hatte. Er hatte den Schmerz gespürt, und zum ersten Mal hatte er begriffen, wie Jaz damit umging, wie er es schaffte, nicht zu schreien oder zu wimmern, obwohl sein Gesicht nur noch eine Fratze war. Die Antwort war Wut. Er liess seinen Zorn darüber, dass es wehtat und er nichts dagegen tun konnte, am Tisch aus und an dem Gürtelende, das er sich zwischen die Zähne geschoben hatte, fluchte und knurrte, aber beklagte sich mit keinem Wort.

Falrey begriff auch, dass es nicht das erste Mal war, dass Jaz sich von Emila eine Wunde nähen liess, ohne sich vorher in Alkohol zu ertränken. Er erinnerte sich an das Spiel, das Emila am ersten Abend abgezogen hatte, indem sie Jaz Martenbrand gab, um ihm Schmerz zu ersparen, der schlimmer war als er ihn sich vorstellen konnte, und ihm wurde klar, dass nur er das Publikum dafür gewesen war. Den Schein wahren, als wäre es nicht schon viel zu oft vorgekommen. Normal wirken.

Und Emila hatte das Theater aufrechterhalten, selbst als es längst keinen Sinn mehr gemacht hatte. Weil es irgendwie funktionierte, für sie selbst. Weil sie Angst hatte. Weil sie wollte, dass es nicht so war, wie es war.

Im Endeffekt läuft alles darauf hinaus. Angst. Emilas Angst, von der Gesellschaft verstossen zu werden oder Jaz zu verlieren. Jaz Angst, dass sie ihn vergessen würde. Mistys Angst, dass das Leben nichts Neues mehr für ihn bereithielt. Laflabems Angst vor einem Messer in seinem Rücken. Die Angst der Waldleute vor allem Fremden, sei es ein Bastard, gezeugt von einem Mann, der nicht zu ihnen gehörte, oder die Wildnis jenseits ihrer bekannten Grenzen. Seine eigene Angst vor der Wahrheit. So oft führte gerade die Angst vor etwas dazu, dass es eintrat. Laflabem hatte Jaz umbringen wollen, weil er sich vor ihm fürchtete. Deshalb war Jaz nichts anderes übrig geblieben, als den Spiess umzudrehen. Und Laflabem war genau den Tod gestorben, den er hatte vermeiden wollen.

War es also besser, sich der Angst zu stellen? Der Wahrheit ins Auge zu sehen? Er spürte danach, tastete mit vorsichtigen Fühlern nach dem Klumpen am Grund seines Wesens, den er so sorgfältig ertränkt hatte, und der doch manchmal völlig unerwartet wieder hochblubberte, aber er zog sie schnell wieder zurück. Er konnte es nicht. Die Erinnerungen taten zu weh, die Erkenntnisse waren zu vernichtend. Man konnte etwas nicht akzeptieren, das einem jede Hoffnung auf ein gutes Leben nahm.

Er sah Jaz vor sich, wie er den Tisch umklammerte, zwischen zusammengebissenen Zähnen fluchend, und einem Teil von ihm wurde klar, dass Jaz diese Hoffnung schon lange aufgegeben hatte. Und trotzdem machte er weiter. Es war merkwürdig gewesen, ihn so zu sehen. So ausgeliefert, so an der Grenze dessen, was er wegstecken konnte, aber trotzdem bei vollem Bewusstsein. Seine Arme waren dürr geworden und die Vielzahl der Narben darauf war erschreckend. Er war doch erst sechzehn, verdammt!

Als Emila den letzten Knoten verknüpft und ihm den Arm verbunden hatte, hatte er dann doch zum Flachmann gegriffen, aber ihn immerhin nicht ganz geleert. Emila hatte auch Falrey gefragt, ob er verletzt sei, er hatte verneint und dafür gesorgt, dass ein bleicher und torkelnder Jaz sein Bett fand. Und jetzt, sieben Zeiten später, lag er hier und versuchte sich nochmal alles in Erinnerung zu rufen. Der Junge im Drogenloch. Die Begegnung mit Tersavell. Der Kampf. Jaz hatte mal wieder eben in einer einzigen Nacht fünf Männer umgebracht, mit einer Effizienz, die es umso schockierender machte.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt