Kapitel 28 - Die Felder

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Er träumte vom Wald in dieser Nacht. Grünen Schatten unter Bäumen. Er lief. Irgendjemand lachte irgendwo, ein Kinderlachen, fröhlich, unbeschwert. Über moosige Wurzeln kletterte er eine Anhöhe hinauf. Nasses Farn strich über seine Hände, als wäre der Morgentau noch nicht verdunstet, seine Finger streiften rauhe Kiefernrinde. Licht brach vor ihm durch die Stämme und er kletterte darauf zu. Als er es erreichte, vergass er einen Moment lang zu atmen. Steinchen rieselten zwischen ins Freie ragenden Wurzeln in die Tiefe, wo seine Schritte den Boden erschüttert hatten. Vor ihm lag ein riesiges, kreisrundes Tal, erfüllt von dichtestem Wald, so wild und wuchernd, dass er die verwitterte Felsspitze zuerst fast nicht erkannte.

Ein merkwürdiges Gefühl schlich sich in seinen Nacken und von dort in die Brust, als er verstand. Niramun. Der Krater. Aber... Wie... wie viel Zeit musste vergangen sein? Dass Stein zerfiel? Dass Wald wuchs, wo Wüste war? Wehmut brandete in ihm auf, so heftig, dass es schmerzte. Er versuchte sie niederzuringen, sich zu sagen, dass es nichts brachte, darüber nachzudenken, was er verloren hatte, dass er es nicht mehr ändern konnte. Doch davon hörte es nicht auf, wehzutun. Er begriff, dass das Lachen nicht wahr gewesen war, nur ein Nachhall in seiner Erinnerung, von etwas, das solange her war, dass nichts mehr davon übrig war. Nichts von den Menschen, die Teil davon gewesen waren, nichts von ihren Träumen, Sorgen, Hoffnungen. Sie waren alle längst tot und die Zeit hatte selbst ihre Gräber verschwinden lassen. Niemand lebte mehr. Es war alles schon lange, lange fort.

Die Zukunft hat versagt. Aber etwas bleibt immer. Der magische Ort kennt keine Zeit. Er wusste nicht, woher die Worte kamen, aber als er sich umwandte, lag ein Weg zwischen den Bäumen. Er folgte ihm. Goldenes Licht, der Geruch von Erde, warm, dunkel, lebendig. Am Ende des Pfades lag ein Haus, gedeckt mit Schilf. Ein Teich lag dahinter und er wusste, dass sie dort auf ihn wartete, alterslos, um ihm ein weiteres Rätsel zu stellen. Sucher...

Er umrundete das Haus und sah das Schilf, das Glitzern des Wassers. Erneut erklang verhallendes Kinderlachen, aber diesmal jagte es ihm einen eisigen Schauer mitten durchs Herz.

Sie stand dort am Wasser, und obwohl es ihm schwerfiel, ihre Gestalt wirklich auszumachen, wusste er, wer sie war. „Sucher", sagte sie erneut.

„Hexe", erwiderte er den Gruss. Er sagte nichts darüber, wie lange er sie gesucht hatte. Das wusste sie ohnehin.

„Schau", sagte sie und deutete auf das Wasser des Teiches.

Etwas in ihm hatte Angst davor, hinzublicken, aber sie liess ihm keine Wahl. Er sah die Welt unter der Oberfläche. Felder breiteten sich aus, auf denen ein kleines Haus stand. Im Türrahmen eine Frau mit dunklem Haar. Sie hatte ein rotes Tuch um ihre Schultern geschlungen und hielt es fest, als wäre ihr kalt. Aber die Kälte war in ihr drin, eine hoffnungslose Einsamkeit, denn alles um sie war leer. Kein Mann. Keine Kinder. Keine Vögel, die sangen.

„Sie wartet auf ihn", hörte er die Stimme der Hexe. „Aber in dieser Version der Geschichte kam er niemals an."

Bedauern durchschnitt seine Brust, Reue für all das, was er getan hatte, und noch mehr für das, was er nicht getan hatte. Wie konnte er nur. Wie konnte er denken, irgendetwas wäre wichtiger! Warum hatte er nie begriffen!

Er realisierte, dass er einen Kompass in den Händen hielt. Er packte die Nadel, drehte sie weg von ihrem Kurs nach Norden, wollte sie ungeschehen machen, all die Fehler, die er begangen hatte. Noch einmal eine Chance. Um es diesmal richtig zu machen. Aber alles, was er erreichte, war den Wind zu verlangsamen, der die Wolken über den Himmel trieb. Stärker drückte er, mit all seiner Verzweiflung, und langsam drehte sich der Wind, trieb alles zurück, immer schneller und schneller, viel zu schnell. Tag und Nacht wurden eins, nur noch Schlieren und dann war da plötzlich nichts mehr, nichts als Leere. Zwei Kugeln in der Ferne trafen aufeinander, ihre Trümmer wie erstarrt, in einer ewigen, stummen Kollision.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt