Kapitel 87 - Am Fenster

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Falrey wachte erst auf, als Mittag längst vorbei war, mit einem trockenen Hals und allein im Zimmer. Er rollte sich von der Matratze, schlurfte nach unten und trank einen Becher Wasser, bevor er versuchte, die Geschehnisse der letzten Nacht zu einem schlüssigen Bild zusammenzufügen. Bei Yainil, warum hatte er so viel gesoffen? Und warum war er so ein gefühlsdusseliger Idiot, wenn er betrunken war? Gut, eigentlich war er das immer. Aber normalerweise behielt er sich wenigstens für sich. Jaz musste sich schlapp gelacht haben.

Egal, das wichtige war: Nemi war da und es schien ihr gut zu tehen. Jetzt musste er nur noch einen Weg finden, sie zu treffen.

Erneut versuchte er es am Brunnen, aber auch diesmal war er erfolglos. Warum auch immer sie nicht aus dem Haus kam, es war ein Problem, denn er kam nicht hinein. Ein Teil von ihm wollte einfach warten, so weitermachen, tage- oder wochenlang, wenn es sein musste, denn irgendwann musste sie das Haus ja wieder verlassen. Aber was sollte sie denken, wenn er sich so lange nicht bei ihr meldete? Dass sie ihm egal war, dass er sie im Stich liess? Allein die Vorstellung war unerträglich. Nein, er musste sie treffen und mit ihr reden.

Wenn er sich nicht ins Haus schleichen wollte, bedeutete das, er musste sie an einem Fenster erwischen, wenn sie alleine war. Er ging in Gedanken noch einmal durch, was er am Vortag beobachtet hatte, und ein Plan nahm in seinem Kopf Gestalt an. Als die Sonne unterging, legte er sich erneut auf dem gegenüberliegenden Dach auf die Lauer und wartete, bis es ganz dunkel war, bevor er vom Haus hinunter kletterte und sich an den Eingang einer Nebengasse stellte.

Die Läden im oberen Stock waren bereits geschlossen, in der Küche brannte noch Licht. Falrey lauschte, konnte aber nicht mehr als einige Gesprächsfetzen aufschnappen. Gegen Ore wanderte schliesslich Licht die Treppe hoch und in Nemis Zimmer. Falrey löste sich aus dem Schatten, erstarrte aber, als er Stimmen hörte. Nemi. Das andere musste ihre Mutter sein. Er schloss die Augen im Versuch, etwas zu verstehen, aber der Fensterladen dämpfte zu gut.

Schliesslich ging das Licht aus. War ihre Mutter jetzt weg? Falrey zögerte, dann schlich er sich zum Küchenfenster. Es stand immer noch halb offen, um kühle Luft hinein zu lassen, und er huschte der gegenüberliegenden Wand entlang, versuchte einen Blick hinein zu erhaschen und gleichzeitig ausserhalb des Lichtkegels zu bleiben. Als er Eriuns Kopf erblickte, zuckte er zusammen vor Angst, entdeckt zu werden, aber der Badehausbesitzer hatte sich über seine Buchhaltung gebeugt und blickte nicht auf, geschweige denn aus dem Fenster. Falrey schob sich weiter, bis er auch Nemis Mutter am Tisch sitzen sah, dann verdrückte er sich und huschte um die Hausecke.

Nemis Zimmer war dunkel. Falrey sah sich sorgfältig nach etwaigen offenen Läden in der Nachbarschaft um. Als er keine entdeckte, zog er die kleine Tonscherbe, die er am Nachmittag von der Strasse aufgelesen hatte, aus seiner Westentasche, schätzte die Distanz und warf.

Das erste Mal verfehlte er und die Scherbe prallte weiter unten an der Mauer ab, das zweite mal traf sie den Fensterladen mit einem gut hörbaren Tok. Falrey erstarrte und lauschte, aber nichts war zu hören, weder vom Küchenfenster, noch aus den umliegenden Häusern. „Nemi?", flüsterte er.

Keine Reaktion.

Er hob die Scherbe auf und warf sie erneut, mit mehr Wucht diesmal. Nichts passierte. Verdammt, war sie etwa schon eingeschlafen? Noch einmal warf er und diesmal hallte der Aufprall viel zu laut durch die Gasse. Hastig sah er sich um, bevor er so laut er sich traute zischte: „Nemi! Ich bins. Mach auf!"

Immer noch nichts. Innerlich fluchend fragte er sich, ob er es wagen sollte, hochzuklettern und direkt anzuklopfen, entschied sich aber dagegen. Das ganze war so schon zu riskant.

Gerade als er ein weiteres Mal mit der Scherbe ausholte, glaubte er ein Geräusch zu hören. Er hielt inne, bevor er ein weiteres Mal flüsterte: „Nemi?"

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt