Kapitel 102 - Was bleibt

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Er schlief, träumte wirr, wachte immer wieder auf. Manchmal weckte ihn Emila, half ihm sich aufzurichten, gab ihm Wasser zu trinken, aber ihm war so übel, dass er sich mehrmals davon übergab. Manchmal war Jaz da, fing seine Hände ein, hielt sie fest und redete auf ihn ein, und auch wenn Falrey nur die Hälfte von dem Verstand, was er sagte, war er froh, seine Stimme zu hören, zu wissen, dass er da war.

Als er das erste Mal wieder wirklich klar zu sich kam, lag er auf seiner Matratze, zusammengerollt und in die Decke gewickelt. Er spürte immer noch sämtliche Gliedmassen, aber der Schmerz war dumpf geworden. Dem Licht nach musste Nachmittag sein. Das Haus war still. Er hätte nicht sagen können, ob Zeiten vergangen waren oder Jahre, und wie immer machte ihm der Gedanke Angst. Er sagte sich, dass das gut war. Angst zeigte, dass er leben wollte, jetzt. Dass er etwas zu verlieren hatte.

Vorsichtig tastete er nach seinem Kopf, spürte den Verband unter seinen Fingern, die Krusten an seiner Augenbraue und den Wangenknochen, die Schwellung seiner Nase. Langsam, um die Kopfschmerzen nicht herauszufordern, zog er die Decke zurück, blickte an sich herunter. Er realisierte, dass er nicht seine eigenen Kleider trug, sondern irgendetwas von Jaz. Es fühlte sich frisch und sauber an, etwas fremd, rauh genug, um zu scheuern auf der Haut, wo sie nicht von Verband bedeckt war.

Müde liess er den Kopf zurück sinken und schloss die Augen.

Als er das nächste Mal erwachte, sickerte Abenddämmerung durch das Fenster. Jaz sass auf der Kante seines Betts, sah zu ihm herüber. Ihre Blicke begegneten sich und für eine Weile musterten sie einander schweigend.

Falrey betrachtete die fleckigen Stiefel, die bleichen Finger in den schwarzen Handschuhen. Wie hatte Jaz das geschafft? Ihn da rauszuholen, lebend? Er erinnerte sich daran, wie Jaz durch die Türe gebrochen war, und in der Erinnerung sah er den kalten Zorn in seinem Gesicht, den er in jenem Moment kaum wahrgenommen hatte, diese wilde Entschlossenheit, die alles erreichen konnte, selbst das Unmögliche. In solchen Herzschlägen schien Jaz mehr als nur ein Mensch, als hätte er alle Grenzen und Beschränkungen abgestreift, als könnte ihm nicht einmal der Tod noch etwas anhaben.

Langsam versuchte Falrey sich aufzurichten, zuckte zusammen, als Schmerz durch seine Seiten schoss, hielt inne, unsicher, ob er sich aufsetzen konnte, oder ob vielleicht doch mehr kaputt war, als er dachte.

„Deine Rippen sind in Ordnung", sagte Jaz, als hätte er seine Gedanken gehört. „Ela sagt, du hast überhaupt nichts gebrochen. Wie auch immer du das geschafft hast." Er schnaubte, dann meinte er: „Am meisten Sorgen hat sie sich um deinen Kopf gemacht."

Falrey grinste schief. „Der hat auch am meisten abgekriegt", meinte er heiser. Sogar die Erinnerung an den letzten Aufprall, als er mit dem Stuhl hintenüber gekippt war, liess ihn vor Schmerz die Augen zusammenkneifen, obwohl er zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr viel mitbekommen hatte.

„Aber du bist wieder aufgewacht", sagte Jaz.

Falrey erwiderte nichts darauf. Er fühlte sich nicht in der Lage, genug nachzudenken, um eine richtige Antwort zu finden, eine, die Jaz Worten und dem Tonfall, mit dem er sie aussprach, gerecht wurde. Stattdessen setzte er sich auf, lehnte sich gegen die Wand. „Wie lange?", fragte er flüsternd.

„Du hast zwei Tage geschlafen", erwiderte Jaz und nickte auf das Bett.

„Und wie lange war ich...?"

„Auch zwei Tage", sagte Jaz.

Falrey nickte langsam. Er hätte es nicht sagen können.

Jaz starrte auf seine Hände. Dann sagte er: „Ich hab so lange gebraucht, um dich zu finden."

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt