Kapitel 46 - Der halbe Eber

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Es fühlte sich an wie ein halbes Leben, seit er hier gewesen war. Er wischte sich die Tränen aus dem Geischt, trat auf die schiefe Türe zu und stiess sie an. Sie schwang auf, ohne einen Laut von sich zu geben und der Dunst von Alkohol und kaltem Rauch umfing ihn wie eine Nebelwolke, als er leise über die Schwelle trat.

Der Schankraum war dunkel und leer, nur über der Theke baumelte eine einzelne Lampe. Falreys Blick glitt über die Dinge, die an Wänden und Decke hingen, das Wagenrad, die Netze, die leeren Flaschen, die Masken an der hinteren Wand, die als merkwürdig erstarrte Fratzen auf die zerschlissenen Tische herabblicketen, die verstaubten Krüge im Regal hinter der winzigen Theke. Alles wirkte ausgestorben und er wollte eben wieder zurück nach draussen treten, als eine Stimme ertönte: „Setz dich, Junge."

Falrey blieb beinahe das Herz stehen vor Schreck, dann machte er einen schnellen Schritt nach vorne und sah nun erst den Wirt, der hinter der Theke auf einem Hocker sass, verborgen hinter einem Fass. Vor ihm stand ein Krug Bier und das Lampenlicht spiegelte sich auf seiner Glatze, während er auffordernd auf die andere Seite des Tresens nickte.

Langsam schloss Falrey die Türe, duckte sich unter einem Paar Steigbügeln hindurch und zog sich einen Stuhl heran, um sich ihm gegenüberzusetzen. Der Mann war älter, als er ihn in vager Erinnerung hatte. Ein löchriger, grauer Bart bedeckte seine Wangen und seine Schürze war fleckig. Er zog einen zweiten Humpen aus dem Regal und füllte ihn aus einem grossen Krug mit dunklem Bier, bevor er ihn Falrey hinschob und ihn mit einem Kopfnicken aufforderte zu trinken. Falrey leistete Folge und stellte fest, dass das Bier gut war, gut und stark.

Eine Weile lang sagte keiner von ihnen ein Wort.

„Nicht viel los heute", meinte Falrey schliesslich mit einem Blick durch den verlassenen Schankraum.

„Mal sind es viele, mal wenige", erwiderte der Wirt gleichgültig. „Aber immer genug." Er musterte Falrey aus dunklen Augen. „Sie kommen zu mir, wenn sie in Schwierigkeiten sind. Wie hast du hergefunden?"

Falrey schluckte, bevor er antwortete: „Zufällig."

Der Wirt liess ihn nicht aus den Augen. „Niemand findet zufällig hierher."

Falrey stellte seinen Krug ab. „Ich war schon einmal hier. Zweimal, um genau zu sein."

„Ich erinnere mich nicht an dich", entgegnete der Wirt.

Ein Lächeln glitt über Falreys Lippen. „Das ist normal. Niemand erinnert sich an mich." Er trank einen Schluck. „Ich war in Begleitung eines anderen. Aber ich hätte den Weg nicht mehr gewusst."

Der Wirt tat es ihm gleich. „Du vielleicht nicht. Aber etwas in dir hat sich erinnert und dich geführt. Manchmal muss ein Jäger seinem Instinkt folgen anstatt seinem Verstand."

„Ich bin kein Jäger", erwiderte Falrey.

„Und dennoch bist du hier", sagte der Wirt. Er griff in seine Schürze und legte drei Würfel auf den Tisch. „Spielst du gegen mich?"

„Um was?", fragte Falrey.

„Um nichts."

„Was für Regeln?"

„Wer höher wirft, beginnt. Drei Würfe. Du kannst Einer und Sechser rausnehmen, zwei Sechser geben einen Einer. Drei Einer auf einen Wurf gewinnen sofort."

Falrey nickte. Er kannte das Spiel, es war überall beliebt, wo er gewesen war, von Liti Mer bis Niramun. Beide ergriffen sie einen Würfel und liessen ihn über die Theke rollen. Falreys Zahl war höher und er begann. Sein erster Wurf zeigte eine Eins, eine Drei und eine Fünf, er nahm die Eins heraus und warf die anderen beiden Würfel erneut. Eine Zwei und eine Vier. „Sieben im Zweiten", sagte er und schob dem Wirt die Würfel zu.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt