Kapitel 92 - Seniah

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Er erwachte zusammengerollt auf dem Teppich eines halbdunklen Zimmers, das er nicht kannte. Der Teppich war rotbeige gemustert, mit Fransen am Rand. Jaz lag nur eine Armlänge von ihm entfernt, mit dem Rücken zu ihm gewandt, selbst zu einer Kugel gerollt und in seinen Mantel gewickelt. Seine Anwesenheit beruhigte Falrey, nahm ihm die Angst vor der Frage, wo er war. Wenn Jaz da war, wenn er es wagte zu schlafen, musste der Ort sicher sein.

Langsam setzte sich Falrey auf. Er fühlte sich wie zerschlagen und innerlich komplett leer. Ihm war klar, was passiert war, er hatte es nicht vergessen, nichts davon. Nemi hatte... er wollte den Gedanken nicht zu Ende führen, nicht jetzt. Er hatte sich betrinken wollen. Jaz hatte ihn davon abgehalten. Er hatte sich mit Jaz geprügelt. Falrey erinnerte sich daran, wie zerschlagen er ausgesehen hatte. Es tat ihm so verdammt leid. Jaz konnte für all das am allerwenigsten. Jaz, der ihn von Anfang an gewarnt hatte, ihm versucht hatte klar zu machen, wie beschissen die Welt funktionierte. Trotzdem war er es gewesen, der hingehalten hatte, all die Schläge eingesteckt, die andere verdient hätten. Und dann hatte er ihn nach Hause getragen. Nein, nicht nach Hause, sondern zu Seniah.

Falrey blinzelte die Tränen weg, die ihm in die Augen gestiegen waren, und blickte sich um. Der Raum war klein. In einer Ecke war ein Herd an die Wand gemauert, kaum mehr als eine Röhre, auf deren oberes Ende ein Topf passte. Eine kleine Kommode füllte die gegenüberliegende Wand, hinter Falrey stand ein Bett, leer abgesehen von den zerwühlten Decken und Kissen darin. Zwei Türen gingen ab. Eine davon stand einen Spalt breit offen, weiches Morgenlicht sickerte dadurch in den Raum.

Leise rappelte sich Falrey auf und blieb einen Moment stehen, bis er sich sicher war, dass seine Knie nicht nachgeben würden. Seine Knochen fühlten sich an, als hätte jemand sie ausgehöhlt. Vorsichtig trat er um Jaz herum zur Tür, stiess sie ein wenig auf und schob sich nach draussen.

Er trat auf einen kleinen Balkon, kaum ein auf anderthalb Schritt, gerade genug Platz für ein Tischchen und zwei Hocker. Seniah sass auf einem davon, nippte an einer Tasse Tee, den Blick gedankenverloren auf die noch im Schatten liegende, morgenstille Gasse hinunter gerichtet. Dann sah sie auf und nickte ihm wortlos zu. Ihre dunklen Locken waren wirr und sie trug ein Nachthemd und weite Hosen, zerknittert, als wäre sie eben erst aufgestanden. Sie deutete auf den zweiten Stuhl und Falrey zog lautlos die Türe hinter sich zu, bevor er sich setzte.

„Wie geht es dir?", fragte sie leise.

Er zuckte mit den Schultern, wusste nicht wirklich, was er darauf erwidern sollte. Es war nicht gut, nichts war gut, aber im Moment lag er immerhin nicht heulend am Boden.

„Möchtest du Tee?"

Er nickte.

Sie hob einen Becher und die eiserne Kanne vom Boden neben ihrem Stuhl und schenkte ein. Er nahm den Becher entgegen und blies vorsichtig über die dampfende Flüssigkeit. „Danke", flüsterte er heiser.

Eine Weile lang schwiegen sie beide, sahen zu, wie der sonnenerleuchtete Streifen an der westlichen Kraterwand allmählich breiter wurde, als sie sich über den Horizont erhob, oben in den Weiten der Ebene. Falrey spürte, wie wenig er geschlafen hatte, aber obwohl er so müde war, obwohl er die Augen am liebsten einfach wieder geschlossen hätte, um zu vergessen, wollte er nicht hineingehen. Er brauchte das Licht, das durch ihn hindurchschien und sich in seinem Inneren brach, als wäre er eine Glaskaraffe, fürchtete die Dunkelheit, die zurückkehren würde, wenn es verschwand.

Sein Blick blieb an Seniah hängen. Sie sah blass aus im Morgenlicht, fein, beinahe zerbrechlich, wie Jaz ein Geschöpf der Nacht, das jeden Morgen erlebte im Wissen, dass es der letzte sein konnte. „Bist du oft wach um diese Zeit?", fragte er leise.

„Manchmal", lächelte sie. „Ich schlafe nicht besonders gut. Sowieso nicht, wenn andere im Raum sind."

„Tut mir leid", murmelte Falrey auf die Tischplatte gerichtet. Schliesslich waren sie nur wegen ihm hier gelandet. Weil er sich geweigert hatte aufzustehen, und weil Jaz sich geweigert hatte, ihn liegen zu lassen. Wie hatte er es überhaupt geschafft, ihn hier hinauf zu bringen, in den dritten, vierten Stock? Und warum hatte er sich überhaupt die Mühe gemacht, nachdem er ihn so zusammengeschlagen hatte, nachdem er ihn im Stich gelassen hätte, nur für...

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt