Kapitel 99 - Feigling

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Diesmal war es Jaz, der Emila aus dem Bett holte, als sie endlich nach Hause kamen, und Falrey, der dagegen protestierte, denn obwohl ihm alles wehtat, hätte er sich am liebsten einfach zusammengerollt und geschlafen. Emila liess ihn Weste und Tunika ausziehen und besah sich die Schnitte an seiner Schulter. Falrey biss die Zähne zusammen, als sie sie reinigte und war erleichtert, als sie meinte, nichts müsste genäht werden. Er hielt still, während sie ihn verband, und allmählich wurde der brennende Schmerz der offenen Wunden zu einem dumpfen Pochen.

Während sie sich um Jaz Unterarme kümmerte, sass er am Tisch, starrte ins Feuer und für einige Atemzüge fühlte er sich beinahe geborgen. Der Verband war war, aber viel mehr noch gab er Falrey das Gefühl, dass sich jemand um ihn kümmerte. Dass er nicht egal war. Er lehnte sich gegen die Tischkante und schloss die Augen, hörte Jaz leise Stimme, als er gegen irgendetwas Einwand erhob, und für einen Augenblick war alles in Ordnung. Er war nicht allein. Wenigstens nicht allein...

Er stand in einem dunklen Korridor, kalter Stein unter seinen nackten Füssen. Am Ende war eine Tür, angelehnt, ein schmaler Streifen von Kerzenlicht sickerte in den Flur. Leise tapste er darauf zu, stiess die Türe auf.

Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte er erwartet, in dem Raum dahinter ein Bett zu sehen, doch stattdessen klaffte dort ein Loch in der Wand. Er trat an den Rand, blickte hinunter in ein weites, bewaldetes Tal, umrahmt von Bergen. Ein Bach teilte es und an seinem Ufer stand ein Haus, gedeckt mit Schilf, umgeben von einem kleinen, eingezäunten Garten. Er erkannte es sofort.

Gezogen von überwältigender Sehnsucht begann er den Abhang hinunter zu klettern und zu schlittern, ohne daran zu denken, wie er wieder hinauf kommen würde. Er wollte nur noch nach Hause. Erst als er durch den Wald strich, begann er sich zu fragen, was ihn dort erwartete. Du weisst, dass sie tot ist, erklang eine Stimme in seinen Gedanken. Also warum willst du überhaupt zurück? Willst du wirklich wissen, wie es aussieht, verlassen, ohne jedes Leben? Es gibt doch nichts mehr dort, was dir etwas bedeutet. Nur Erinnerungen, die wehtun. Er hatte keine Antwort darauf, fühlte sich so unendlich alt.

Dann traten die Bäume zurück und er stand am Rand einer Lichtung, mit vier Grabhügeln. Er erkannte die ersten beiden, der alte, beinahe Ebene Kegel, unter dem der Vater seiner Mutter lag, den er nie gekannt hatte, der neuere seiner Grossmutter, deren Gesicht zumindest noch ein verschwommener Fleck inmitten weissgrauer Haare war in seiner Erinnerung. Der dritte trug einen Kvaran mit ausladenden Ästen und er hätte beinahe geweint, als er begriff, dass es ihrer sein musste. Wie viel Zeit war vergangen, wenn der Baum so gross geworden war? Wie lange war er nicht mehr hier gewesen?

Er fühlte sich schuldig, als er die Äste streifte, während er daran vorbeiging. Der vierte Hügel schien frisch, die Erde noch schwarz. Darauf, den Rücken an den Stamm des kleinen Bäumchens gelehnt, sass Jaz, die Augen geschlossen. Er wirkte verloren zwischen dem grünen Gras und den weissen Blättern, so losgerissen von allem, was er kannte, wie ein Schatten einer anderen Welt, fern von seiner Heimat und aller Kraft beraubt. Was tat er hier? Was hatte ihn dazu gebracht, hierher zu kommen, wo er nichts kannte, wo er so schwach war?

Falrey wollte ihn auf die Füsse ziehen, ihm seine Kraft zurückgeben, aber Jaz schien ihn nicht zu bemerken. Das machte Falrey Angst, er begann zu weinen.

Dann hörte er die Stimme der Hexe. „Komm her, Sucher."

Er wandte sich um und dort, vor der Tür des Hauses stand sie, das Haar so rot wie das seiner Mutter und doch ganz anders als sie. Älter, obwohl das Alter sich nicht in ihrem Gesicht zeichnete. Neben ihr wartete der Mann mit dem Roten Mantel, die Stiefel staubig von der langen Strasse, die ihn hierhergeführt hatte, und zwischen ihnen, seine Hand auf ihrer Schulter, Nemi. Sie trug ein schlichtes, helles Kleid, einen Blumenkranz auf den geflochtenen Haaren, wie zu einem Fest.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt