Kapitel 94 - Am Brunnen

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„Was soll ich damit?"

„Essen. Wir haben eine Abmachung", erwiderte Falrey und hielt Jaz die Brottasche weiterhin auffordernd vors Gesicht.

„Und wie lange hast du daran jetzt selber nicht mehr gedacht?"

„Das heisst nicht, dass du dich auch davor drücken kannst, wenn ich daran denke", schnaubte Falrey gereizt.

Jaz verzog das Gesicht, griff aber nach dem Brot und hielt es sich prüfend unter die Nase.

„Du hast sogar die ausdrückliche Erlaubnis, nur den Inhalt zu essen", meinte Falrey, während er in eine Surati biss. „Jedem anderen würde ich dafür ein paar verpassen."

„Wie liebenswürdig", murmelte Jaz, bevor er sich mit den Zähnen ein paar Streifen gebratene Umau herausfischte.

Sie warteten am vereinbarten Treffpunkt auf die anderen. Es war kurz vor dem Mittag und an der Sonne war die Luft so heiss, dass selbst das Atmen mühsam war, deshalb hatten sie sich in den schmalen Streifen Schatten einer Hauswand gequetscht und Falrey versuchte sich so wenig wie möglich zu bewegen.

Es erstaunte ihn ein wenig, dass Jaz doch mitgekommen war, als er das Haus verlassen hatte, danach, wie ablehnend er sich über die Idee geäussert hatte, aber irgendwann im Suff hatten die anderen es geschafft, ihm das Versprechen abzunehmen, dass er wenigstens aufkreuzen würde, und offenbar hielt er sich daran.

Was Falrey selbst betraf, hätte er es keine Zeit länger in den vier Wänden ausgehalten. Gestern war schon zu viel gewesen. Er hatte den ganzen Tag nur dagelegen und es hatte sich angefühlt, als hätte er überhaupt nicht mehr aufstehen können. Als wären all die Verzweiflung, die schlechten Gedanken, die schmerzhaften Erinnerungen, die in ihm durcheinanderwirbelten und ihn zu Boden drückten, aus ihm heraus in die Matratze gesickert, hätten sie in einen Sumpf verwandelt, und der Schlamm zog ihn tiefer und tiefer, bis alles schwarz war, bis er am liebsten einfach aufgehört hätte zu atmen, um nicht mehr zu existieren.

Aber natürlich funktionierte das genauso wenig, wie er sich hätte ein Messer in die Brust stecken können. Seine Lungen atmeten weiter, egal ob er wollte oder nicht. Ein Stück weit war es fast ironisch. Er hatte seinen Körper nie als den starken Teil seiner selbst gesehen, verglichen mit seinem Wissen oder seiner Fähigkeit zu Denken, schliesslich war er klein und schwach, aber offenbar war er immer noch geeigneter für das Überleben als sein Geist. Schlicht, weil er sich weigerte zu sterben.

An irgendeinem Punkt war Falrey auch klar geworden, dass scheisse war, was er da tat. Dass es eine dumme Idee war, dazuliegen und sich seinen Gedanken zu überlassen, wenn er sogar merkte, dass es davon nur schlimmer wurde. Aber jeder Versuch, sich aufzuraffen, um irgendetwas zu tun, mündete in der Frage was und damit in der Erkenntnis, dass es nichts mehr gab, wofür sich etwas zu tun gelohnt hätte. Jede Version der Zukunft, für die er sich hätte aufraffen können, war zerbrochen, durchschlagen von Nemis Nein auf jede seiner Fragen, selbst die Ungestellten. Ob sie mit ihm fortziehen, ob sie ihn heiraten würde. Ob sie ihn liebte.

Das Nein hallte wieder in seinem Kopf wie ein Echo und jede Bemühung, sich aus dem Sumpf zu befreien, trat ihn nur tiefer hinein. Bis er irgendwann gar nichts mehr getan hatte, ausser still auf dem Rücken zu liegen, in der Hoffnung, einzuschlafen, bevor er im Schlamm erstickte.

Schlafen hatte geholfen. Er hatte dummes Zeug geträumt, aber wenigstens nicht nur von ihr, und als er heute morgen aufgewacht war, war sein Kopf leer genug gewesen, um aufzustehen und sich anzuziehen, ohne nachzudenken.

Mishu und Sovi waren die ersten, die auftauchten, und Jaz reichte Falrey die Brottasche zurück, um sie per Handschlag zu begrüssen. Falrey stellte fest, dass er tatsächlich einfach den ganzen Inhalt herausgepickt hatte. Ohne einen Kommentar dazu abzugeben, vertilgte er den Rest.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt