Kapitel 62 - Aufgeben

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Er  quetschte sich an Leuten und Tischen vorbei zur Tür und trat nach draussen, um erst einmal aufzuatmen, als er kühle Nachtluft in der Nase hatte anstatt dem rauchigen, stickigen Wirtshausdunst. Sieweckte ihn wieder etwas auf, gleichzeitig wurde ihm aber auch bewusst, wie müde er eigentlich war. Immerhin war er vor Sonnenaufgang aufgestanden und mittlerweile musste fast Vitar sein. Er ahnte, dass er es am nächsten Tag nicht rechtzeitig aus dem Bett schaffen würde.

Jaz war nirgends zu sehen. Falrey ging die Strasse hinunter bis zur nächsten dunklen Gasse, dann in die Gegenrichtung und beide Male rief er leise: „Jaz? Bist du hier?", aber er erhielt keine Antwort. Das ungute Gefühl in seinen Eingeweiden verdichtete sich und verschaffte sich Ausdruck in einem Fluch, der ihm über die Lippen kam. Verdammt nochmal, wohin war Jaz jetzt verschwunden?!

Fast reflexartig blickte er zu den Dachkanten hoch und als er ihn dort nirgends entdecken konnte, suchte er nach einem Aufstieg. Er fand eine Leiter, kletterte hoch, und stieg auf einen Kamin, um über das Dächermeer zu blicken. Es war praktisch Leermond und obwohl Sterne und Stadt immer noch genügend Licht lieferten, um einigermassen zu sehen, wohin man trat, war es schwierig, klare Details zu erkennen. In der unmittelbaren Umgebung war niemand, also liess er den Blick weiter schweifen, kniff die Augen zusammen, hielt Ausschau nach Bewegungen oder Mustern, die nicht zu den geraden Kanten und rechten Winkeln der Häuser passten. Er fand einen schiefen Schornstein, einen Stofffetzen, der an der Eckstange einer Wäscheleine hing und schlapp im Nachtwind hin und her schwankte, einen Haufen Verputzschutt, wo die Fassade eines Dachaufbaus neu gemacht wurde, und schliesslich eine Gestalt, die zwei Häuserblöcke entfernt aufeinem der Dächer kauerte.

Mit Anlauf sprang er über die Gasse und näherte sich dem Schemen. Jaz blickte nicht auf, als er sich neben ihn an die Dachkante setzte. Falrey musterte ihn, bevor er fragte: „Was ist los?"

„Verpiss dich", sagte Jaz heiser und so leise, dass Falrey ihn kaum verstand. Er hatte seinen Tabakbeutel auf den Knien und versuchte sich ein Schilf zu stopfen, aber seine Hände zitterten so stark, dass es ihm kaum gelang.

Falrey war sich nicht sicher, ob er weiter nachhaken sollte oder ihn in Ruhe lassen. Beides fühlte sich falsch an. Ihm fiel ein kleines Päckchen aus Schilfpapier auf, das neben dem Tabak auf Jaz Beinen lag. „Was ist das?"

Jaz gab keine Antwort, sondern öffnete es und schüttete ein wenig des Inhalts in das Schilfrohr, bevor er mehr Tabak hinzufügte. Seine Bewegungen wirkten unsicher, als wüsste er nicht wirklich, was er tat, oder als wäre er sich nicht sicher dabei.

„Jaz?", wiederholte Falrey. „Was ist das?"

„Dampfer", antwortete Jaz, ohne ihn anzusehen.

Falrey brauchte zwei Herzschläge, bis er sich sicher war sich nicht verhört zu haben und ihm klar wurde, was das bedeutete. „Gib das her!"

Jaz reagierte nicht darauf, sondern stopfte nach und klopfte den Tabak nach unten, bevor er sich das Schilf zwischen die Lippen steckte.

„Gib das her", wiederholte Falrey. „Sofort! Jaz, verdammt, gib das her!!"

Er versuchte nach dem Schilf zu greifen, aber Jaz bekam sein Handgelenk zu fassen, zog daran und schlug ihm ins Gesicht. Falrey biss die Zähne zusammen vor Schmerz. Er wand sich aus Jaz Griff, packte ihn an den Schultern und drückte ihn rücklings aufs Dach, bevor er mit einer Hand losliess, um ihm das Schilf abzunehmen. Jaz zog ihm den Ellbogen quer über die Nase und rammte ihm eine Stiefelspitze in die Rippen, worauf es ihm gelang, Falrey von sich runterzustossen. Er packte das Schilf und das Papiertütchen und umschloss beides fest mit seiner linken Faust, aber bevor er sich aufrappeln konnte, hatte Falrey ihn am Kragen gepackt und riss ihn um.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt