Kapitel 41 - Wind und Leere

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Er bemerkte erst, dass er eingeschlafen war, als etwas ihn aufschreckte, ein Kribbeln in der Magengegend, ein Schaudern im Nacken. Die Gewissheit, dass jemand ihn beobachtete. Er riss die Augen auf. Es war Emila.

Morgenlicht sickerte durch das Fenster in die Küche. Still stand sie neben dem Tisch und musterte ihn. Jaz hatte sich nicht gerührt, lag noch immer reglos vor ihm am Boden, nur seine Hand war von Falreys Knien gerutscht. Aber Emilas Blick galt nicht ihrem Bruder. „Alles in Ordnung?", brach ihre leise Stimme die Stille im Raum.

Falrey nickte und obwohl es unnötig war, konnte er sich nicht davon abhalten hinzuzufügen: „Bei mir schon."

Er hörte den bitteren Unterton in seiner Stimme, sah den Schatten der Trauer, der über Emilas Gesicht huschte, und bereute, es gesagt zu haben. Wie konnte er Emila einen Vorwurf machen? Er wusste, was sie durchgemacht hatte. Sie hatte selbst schwer genug an ihrer Vergangenheit zu tragen, er konnte nicht von ihr erwarten, dass sie auch noch mit Jaz Problemen fertig wurde. Sie versuchte es. Er sah es in ihrem Blick in diesem Schimmer der Morgendämmerung, der so viel mehr offenlegte als die hellste Mittagssonne. Sie wusste, warum Jaz sich betrank, sie wusste, womit er sein Geld verdiente, sie wusste alles. Sie versuchte es zu akzeptieren, irgendetwas zu sagen, irgendetwas zu tun, aber sie schaffte es nicht. Es tat zu weh.

Die Erkenntnis trieb Falrey Tränen in die Augen und er wandte den Blick ab, damit sie sie nicht sah.

„Geh schlafen, Falrey", sagte sie, und es war das traurigste, was er jemals gehört hatte. Er erinnerte sich an die anderen Male, als sie ihn schlafen geschickt hatte, während sie selbst die ganze Nacht über an Jaz Bett gewacht hatte. Obwohl er gähnen musste, schüttelte er den Kopf. Diesmal nicht. Diesmal war er dran.

Sie musterte ihn weiterhin und ohne aufzusehen spürte er, dass sie etwas sagen wollte. Aber sie entschied sich dagegen oder vielleicht fand sie auch schlicht nicht die richtigen Worte, denn schliesslich wandte sie sich ab, machte sich etwas zum Frühstück und ass. Sie fragte Falrey nicht, ob er auch wollte, sondern stellte stillschweigend einen zweiten Teller hin und füllte ihn mit Jaruk-Brei. Falrey stand nicht auf. Er war zu müde um zu essen. Der Brei würde auch später noch geniessbar sein, und kalt war er sowieso.

Emila stand auf, spülte ihren Teller und packte ihren Korb. Dann ging sie.

Eine halbe Zeit später wachte Jaz auf. Ohne jede Vorwarnung krümmte er sich zusammen, wälzte sich zur Seite und würgte. Viel gab sein Magen nicht her. Falrey wollte gar nicht wissen, wie lange er nichts mehr gegessen hatte. Er sagte nichts, sondern sah nur zu, wartete, bis Jaz seine Anwesenheit bemerkte. Jaz versuchte sich aufzurappeln, aber er rutschte ab und klatschte beinahe in die Pfütze seines Erbrochenen. Auf die Unterarme gestützt und mit geröteten Augen starrte er Falrey an. Seine Schultern zitterten und er sah erbärmlich aus, fast so beschissen wie in der Nacht, als der Asthora ihn vergiftet hatte.

„Irgendwann bringst du dich um damit", sagte Falrey.

Jaz würgte erneut, bevor er den Kopf hob und die Zähne bleckte. „Was sur Hölle machssu hier?", knurrte er, die Zunge schwer von Alkohol.

Falrey gab keine Antwort darauf. „Wie nahe warst du diesmal dran?"

„Verpiss dich", knurrte Jaz. Er liess sich auf den Rücken rollen und tastete nach dem Dolchgriff an seinem Gürtel, wie um zu prüfen, ob er noch da war.

„Diesmal war es mehr als sonst, oder?"

„Ich sag du solls sich verpissen, verdammt!", brüllte Jaz und zog seinen Dolch.

Falrey sprang in die Hocke. „Oder was?", fragte er kalt. „Stichst du mich ab, so wie du es das letzte Mal tun wolltest?"

Alle Kraft schien aus Jaz Körper zu schwinden. „Nein. Scheisse", sagte er leise. „Nein."

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt