Kapitel 32 - Die Kinder des Surs

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Falrey wusste einige Atemzüge lang nicht, was er darauf antworten sollte. Ein Teil von ihm glaubte Jaz nicht, wollte ihm nicht glauben. Und auf der anderen Seite... die Vorstellung, Jaz als Kind, im Morast des Sur. Zwischen Tod und Wahnsinn. Eine Klinge in der Hand. Ein Küchenmesser. Auf der Jagd, um nicht zu verhungern. Um einfach nur zu überleben. Es passte. Wie die Faust aufs Auge, wie eine Dolchspitze zwischen zwei Rippen. Es war genau der Faden, der ihm gefehlt hatte, um zu verstehen. Genau das, was aus einem Menschen machen konnte, was Jaz war. Jemand, der nur Verachtung kannte für Schwäche. Jemand, der nicht einmal wusste, was ein Gewissen war. Jemand, der den Hunger nicht mehr spürte.

Falreys Stimme stockte, als das Bild durch seinen Kopf flackerte, wie Jaz das Blut von seiner eigenen Hand leckte. „Hast... hast du..."

„Du willst überhaupt nicht wissen, was ich alles getan habe", erwiderte Jaz tonlos. Er trank den letzten Schluck seines Biers und fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. „Das bedeutet es, eine Ratte zu sein", sagte er bitter. „Sich um einen Kanten Brot die Schädel einzuschlagen, wie dieses Arschloch bei Zappa gesagt hat. Alles zu tun, um zu leben. Alles geben, was du hast, was du niemals hattest und was du niemals haben wirst. Weil alle, die es nicht tun, lange vorher verrecken. Du willst nicht wissen, was es braucht, um das zu überleben."

Er hatte die Zähne gebleckt und in diesem Moment sah er nicht mehr aus wie ein Mensch, sondern wie ein Raubtier, und Falrey begriff, dass er genau das war. Jaz hatte nie gelernt, was Moral war, was Religion, was der Wert irgendeiner Form von Kunst oder Philosophie. Er war ein Mensch ohne Zivilisation, darauf trainiert zu töten um zu überleben, von einer Umgebung, in der so etwas wie Güte überhaupt nicht existierte, nicht einmal als Idee. Falrey war klar, dass ein Teil von ihm das von Anfang an gewusst hatte. Es lag in der instinktiven Angst, die Jaz in jedem auslöste, der mit ihm zu tun hatte, im puren Willen, der ihn aufrecht stehen liess, obwohl ihm das Blut aus dem Stiefel quoll, und in dem schwarzen, alles vernichtenden Hass, der in ihm brannte. Jaz war niemand, der darüber nachdachte, wie ein Leben sein sollte, was gerecht war, was gut. Er funktionierte. Er kämpfte. Direkt, instinktiv, in jedem Augenblick, jedem Herzschlag, jedem Atemzug. Denn es war das einzige, was er gelernt hatte.

Aber... aber was war mit Emila? Wenn Jaz und sie Geschwister waren, dann musste sie auch... nein, das konnte nicht sein. Jaz und sie hatten vieles gemeinsam, viel mehr als er lange gedacht hatte, aber trotzdem war sie so anders. Nicht so hart. Nicht so wütend. „Ist Emila... auch...?"

„Ja", antwortete Jaz. „Wir sind von der selben Mutter." Er grinste bitter. „Ich hab dich nicht angelogen."

„Aber... aber...", stammelte Falrey, als er daran dachte, was Jaz ihm noch alles erzählt hatte. Wie konntet ihr überleben, ohne Vater, ohne Mutter? Als Kinder? Wie ist das möglich? Was ist wirklich passiert? „Wie... wie seid ihr..."

Jaz unterbrach ihn. „Du willst, dass ich erzähle?"

Falrey nickte.

Jaz stand auf und kauerte sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt hin, bevor er sich ein Schilf hervorholte und anzündete. Er schien nachzudenken. Falrey fiel auf, dass das Schilf in seinen Fingern zitterte. „Unsere Mutter war eine Hure", begann er. „Im Sur. Verkaufte sich für Essen, Kleider, Schutz. Dafür, nicht umgebracht zu werden. Tun viele." Er zog am Schilf. „Wir lebten in einem Raum mit Löchern in der Decke. Im Herbst stand alles unter Wasser. Sie hatte blaue Finger. Hurenkrankheit, falls dus nicht weisst."

Falrey nickte. Er hatte gehört von der Krankheit. Sie hatte viele Namen und trat überall auf, aber die meisten ihrer Opfer waren Prostituierte oder Männer, die sie zu oft aufsuchten. Es begann mit blauen Fingerkuppen, bevor sich die Farbe nach und nach über den ganzen Körper zog und das Fleisch absterben und verwesen liess, noch während sein Besitzer lebte. Manche starben innerhalb von Wochen, bei anderen zog es sich über Jahre hin, sie verloren Finger, Füsse, ganze Arme. „Sie starb daran?", fragte er leise.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt