Kapitel 8 - Erinnerung

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Er erwachte, weil ihn Stroh in der Nase kitzelte. Benommen hob er den Kopf, warf einen Blick auf das Chaos, das er angerichtet hatte, und liess ihn ächzend wieder sinken. Im Moment machst du echt nur Dinge kaputt, oder?

Eine Weile lang blieb er liegen, aber dann wurde das Piksen zu störend, er setzte sich auf und hätte dabei fast in den Dolch gegriffen, der neben ihm am Boden lag. Sonne schien in den Raum und offenbarte die langen Schnitte im Stoff der Matratze und das Schilfstroh, das daraus hervorgequollen war und sich im halben Raum verteilt hatte. Er stand auf, lehnte sich gegen die Wand und strich sich übers Gesicht. Das war nicht deine beste Idee. Lass dir was einfallen, sonst gibt das Ärger mit Jelerik. Er erinnerte sich, warum er es getan hatte, und ihm wurde klar, dass er ein viel grösseres Problem hatte als eine aufgeschlitzte Matratze.

Vorsichtig, um nicht auf irgendetwas Scharfkantiges zu treten, auch wenn ihm ausser dem Dolch gerade nichts einfiel, trat er ans Fenster, stützte die Ellbogen darauf und die Stirn in die Hände. Draussen war es noch ruhig, die Sonne hatte ihren Zenit noch nicht erreicht und das Quartier lag in einer kühlen Vormittagsschläfrigkeit. Wenn dir so etwas wie gestern Abend passiert, während du arbeitest, bist du den Job los, und zwar endgültig.

Er fühlte sich schlecht und egoistisch, so etwas zu denken. Er sollte verhindern, dass er überhaupt jemals wieder so ausrastete, nicht sich fragen, was es für Konsequenzen für ihn hatte. Es war allein seine Schuld, wenn er sich nicht im Griff hatte, durchdrehte, und er musste die Strafe dafür tragen, hatte sie verdient, wie auch immer sie aussah. Aber jeder andere, der dabei zu Schaden kam, war ein unschuldiges Opfer zu viel. Allein die Frage nach einem günstigen oder ungünstigen Zeitpunkt zu stellen war falsch. Ein guter Mensch fragte sich so etwas nicht. Aber du bist kein guter Mensch. Du bist ein Bastard.

Er biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Dann fuhr er sich selber an: Wenn du es so drehst, kannst du damit früher oder später alles entschuldigen! Vielleicht hatten sie recht. Vielleicht war dieser Kampf von Anfang an verloren. Aber das gab ihm nicht das Recht aufzugeben. Und wenn es ihm niemals gelang zu beweisen, dass sie falsch gelegen hatten, dann wollte er am Ende wenigstens sich selbst in die Augen sehen können und sagen: du hast alles versucht.

Allerdings brachte es auch nichts, sich für ein hohes Ideal, das er vielleicht niemals erreichen konnte, jeden Realismus zu verbieten. Natürlich musste das Endziel immer sein, überhaupt nicht mehr auszurasten, niemandem wehzutun, niemandem zu schaden, egal unter welchen Umständen, aber im Moment wusste er schlicht nicht, wie er das garantieren sollte, wenn ein einzelnes Wort ihn dermassen aus dem nichts völlig rot sehen lassen konnte. Sich zumindest während der Arbeit im Griff zu haben, war eine überschaubarere Aufgabe, und wenn er eine Lösung dafür fand, liess sie sich irgendwann vielleicht auch auf andere Situationen anwenden. Ausserdem nützte es ja nicht nur ihm selber etwas, sondern den Kunden, die er nicht verprügelte, und wenn man dazu einbezog, dass die Gefahr, dass er beleidigt wurde, während seiner Arbeitszeit eigentlich höher war als sonst – und Bastard war nun einmal etwas, was man schnell an den Kopf geworfen bekam – war der Gesamtnutzen, wenn er sich nur während der Arbeit unter Kontrolle hatte und sonst nicht, höher als umgekehrt. Und du hast echt ein Talent darin, dir etwas so zu verkaufen, dass du dich am Ende gut fühlst.

So oder so. Da war ein Problem und er brauchte eine Lösung dafür. Genau wie für die zerschnittene Matratze. Er begann das Stroh einzusammeln, dann suchte er in seinem Rucksack Nadel und Faden.

Als es Zeit war aufzubrechen, wenn er noch irgendetwas zu Essen auftreiben wollte, bevor er seine Schicht antreten musste, hatte er die Hälfte der Schnitte ganz passabel vernäht und auch so etwas wie einen Lösungsansatz gefunden: Ein Kunde, der ins Liliths kam, sah in ihm genauso wenig eine Person, wie er es in den Prostituierten tat. Falls er ihn überhaupt registrierte, dann als ein männliches Subjekt, das in der Ecke stand und eine Funktion als Aufpasser erfüllte, und diese Funktion war es, womit er sich anlegte, wenn er sich daneben benahm. So wenig Falrey selbst entschied, für wen er in einem Konflikt Partei ergriff, so wenig sah der andere in ihm etwas anderes als ein Hindernis, das sich zwischen ihn und sein Ziel stellte. Da war nichts Persönliches in dieser Konfrontation, und genauso wenig waren es die Beleidigungen, denn was immer der Kerl ihm entgegen warf, richtete sich gegen den Wachmann, der ihn davon abhielt, das zu tun, was er wollte, nicht gegen die Person, die dahinter stand, konnte es auch gar nicht, schliesslich wusste er nichts über ihn. Er konnte ihn einen Bastard nennen, aber es hatte nichts damit zu tun, ob er wirklich einer war oder nicht, es war nur eine zufällige Beleidigung, mit der er seinem Ärger Luft machen, einem Ärger, der nicht einmal mit ihm, Falrey persönlich, zu tun hatte, sondern der sich nur gegen den Job richtete, den er machte.

Niramun II - Mörder und BastardWo Geschichten leben. Entdecke jetzt