Kapitel 11 ~ Ein wilder Vogel in einem winzigen Käfig

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PoV Ronald

Wir saßen alle zusammen am Tisch. Crispin an der Spitze, Erik recht neben ihm, Leon links. Neben Leon saß noch eine Frau, die ich nicht kannte. Wahrscheinlich seine Freundin.
Elias, Lana, Jerom, Niclas und Saskia saßen verteilt und ich genau gegenüber von Crispin. Wir beide sahen uns eine Weile stumm in die Augen, bis Erik sich räusperte und damit die Aufmerksamkeit auf sich zog.
"Du bist durch die Barriere gekommen. Also hast du tatsächlich keine bösen Absichten." Ich nickte und warf Leon einen flüchtigen Blick zu.
"Das hatte ich auch schon Leon erklärt." Hatte er ihnen gar nichts gesagt? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Es hatte mich schon überrascht, dass er niemanden von unserem ersten Treffen erzählt hatte.
"Leon hat da nicht so viel Ahnung von, er ist naiv." fuhr Erik mich überraschend gereizt an und ich musste mir ein kleines, gemeines Grinsen verkneifen.
Daher wehte also der Wind.
Der kleine Bruder, der so unschuldig war und so behütet großgezogen wurde.
Ich glaubte nicht, dass Leon mit der Rolle sehr zufrieden war.
Mein Verdacht bestätigte sich, als ich Leons angespanntes Gesicht und seine geballte Faust sah.
Nein, er war definitiv nicht zufrieden damit. Vielleicht würde das noch nützlich werden. Ich wollte Crispin und Erik nicht direkt schaden, aber es wäre dennoch amüsant zu sehen, wie ihr Goldschatz sich von ihnen abwandte.
"Bist du sicher, dass es Jeremie ist?" fing Erik die Diskussion an. Ich wusste, dass er das fragen würde.
"Er hat mir das Buch vor knapp drei Jahren gestolen. Zu dem Zeitpunkt waren wir in New York. Natürlich könnte es ihm auch wieder jemand gestolen haben, aber das halte ich für unwahrscheinlich." Bedrücktes Schweigen breitete sich aus und Erik wollte das Ganze wohl immernoch nicht wahrhaben.
"Wie war er? Wie hat er sich verhalten?" Diesmal war es Crispin. Er versuchte möglichst gleichgültig zu klingen und wahrscheinlich war Jeremie ihm auch scheißegal. Aber er spürte die Schmerzen seines Gefährten. Ein Grund für mich diese Bindung nicht eingehen zu wollen.
"Willst du das wirklich wissen?" fragte ich und musste weiterhin ein grinsen unterdrücken.
Verlorene Kräfte hin oder her, ich war ein Dämon und ergötzte mich am Leid anderer. Auch ohne es zu wollen, es war Teil meiner Natur, meines Wesens.
Erik sah nicht so entschlossen aus, während Crispin nicht das Gesicht verzog. Aber Leons Mienenspiel war am interessantesten. Wie er krampfhaft versuchte, nicht genervt das Gesicht zu verziehen oder die Augen zu verdrehen.
Zu gerne wüsste ich, was er dachte.
"Sag es uns, Ronald." Jetzt schlich sich doch ein Lächeln in mein Gesicht, aber ich war sicher, dass es nicht freundlich aussah.
"Er war kalt. Hektisch. Ungeduldig. Der Wahnsinn in seinen Augen war nicht zu übersehen." Erik schüttelte den Kopf, als würde die Wahrheit dadurch verschwinden. Aber so leicht war es leider nicht im Leben.
"Das kann nicht sein. Wenn Gefährten die Bindung eingehen und einer den anderen verstößt, dann wird man verrückt. Aber ich bin nicht mit Jeremie verbunden." Erik wollte wirklich nach jedem Strohhalm greifen. War es so schwer zu akzeptieren?
Ich schnaufte und lehnte mich ihm Stuhl zurück. Was für Einfallspinsel.
"Also wiklich. Ihr seid doch sonst immer so schlau. Gerade von euch beiden hatte ich mehr erwartet." Ich sah von Erik zu Crispin. Wussten sie es wirklich nicht? Unglaublich, die beiden.
Mein Blick wanderte zu Leon. Würde er darauf kommen?
Leon bemerkte meinen Blick, so wie die anderen auch.
"Eine Seele kann man nicht einfach so spalten." fing Leon an und ich hob eine Augenbraue.
"Wenigstens einer, der was im Kopf hat." murrte ich und schenkte Leon ein kurzes Lächeln, was ihn sichtlich verwirrte.
"Und das heißt?" fragte Jerom und musterte mich misstrauisch.
Auffordernd sah ich zu Leon. Wie intelligent war er wohl?
"Crispins Seele ist gespalten. Aber die beiden Teile gehören trotzdem zusammen und ergänzen sich. Wenn Erik mit Crispin verbunden ist, dann mit seiner ganzen Seele. Nicht nur mit einem Teil. Durch die Bindung mit Crispin ist auch Jeremie an dich gebunden. Aber du nicht an ihn." Alle Blicke schossen zu mir, als wollten sie meine Bestätigung, ob das so stimmte.
Und ich nickte.
Leon hatte genau ins Schwarze getroffen.
Ein wenig Mitleid hatte ich schon mit ihm. Er hatte sicherlich allerlei Fähigkeiten und Talente, aber wurde hier so kurz gehalten.
Ich wusste, dass Leon das Potenzial hatte Großes zu leisten, aber durch sein Umfeld eingeschränkt wurde.
Er war ein wilder Vogel in einem winzigen Käfig.
Und ich würde ihn daraus befreien. Seine Ketten lösen.
Was sich wohl hinter alldem befand?
Wieder musste ich ein Grinsen verkneifen.
Ich würde Leon auf meine Seite ziehen.

Der Bruder des SehersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt