Kapitel 65 ~ eine starke Seele?

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PoV Leon

Ich traute mich gar nicht zu fragen, aber...
"Was ist passiert?" Niclas strich sich kurz über die Stirn und deutete mir ihm zu folgen. Wortlos gehorchte ich seiner stummen Aufforderung. Er führte mich in den Flur, mit dem Fahrstuhl nach unten und steuerte die Krankenstation an.
Die Station auf der Saskia lag, seit wir sie von Jeremie geholt hatten. Ich hatte sie nicht einmal besucht, aber es war einfach zu viel los gewesen. Trotzdem fühlte ich mich schlecht.
"Ist sie krank?" fragte ich Niclas, als dieser vor der Tür stehen blieb. Sein Blick wanderte zu mir.
"Sie ist alt." Ich hatte Saskia schon als alte Frau kennengelernt, aber sie schien immer so voller Leben zu sein. Ganz anders, als man es in ihrem Alter erwarten würde.
Deswegen schockierte es mich umso mehr, sie so zu sehen, als Niclas die Türe endlich öffnete.
Saskia hatte eine Infusion am Arm und lag zusammengesunken in ihrem Bett.
Sie sah so furchtbar klein und gebrechlich aus. Als wäre sie in den letzten Wochen um Jahre gealtert.
Aber ihr Blick, als sie die Augen öffnete und mich ansah, war glasklar. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, als sie mich zu sich winkte.
Ich betrat den Raum und setzte mich auf den Hocker neben ihrem Bett und nahm ihre Hand in meine.
"Ich wusste, du würdest überleben." flüsterte sie und drückte schwach meine Hand.
"Du wusstest es?" fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach. Wieso hatte sie den anderen nichts gesagt?
"Es war am wahrscheinlichsten. Aber du weißt, es besteht immer eine Chance, dass etwas unerwartetes passiert." Sie stockte kurz und leckte sich über die trockenen Lippen.
"Schon als ich dich als kleines Kind das erste Mal im Arm hielt, sah ich die Möglichkeit, dass du ein Dämon wirst." Leicht verstört sah ich Saskia an. Sie hatte nie einen Ton gesagt.
Aber ich konnte nicht wütend sein. Und als ich hörte, wie Saskia anfing zu Husten, stand ich schnell auf um ein Glas Wasser zu holen. Vorsichtig hob ich ihren Kopf ein Stück an und half ihr zu trinken.
"Das wird dir nie passieren. Du wirst nie alt werden." stellte Saskia fest, klang dabei aber nicht verbittert oder ähnliches. Es klang fast, als wäre sie froh darüber.
"Ich habe keine Angst vor dem tot, Leon. Ich weiß auch, dass es sehr viel im Moment für dich ist. Dein Bruder hat dich nicht richtig darauf vorbereitet. Er hätte dich nicht nur hüten dürfen. Aber du bist stark. Deine Seele ist stark." Ich wollte widersprechen, aber Saskia redete einfach weiter.
"Deine Seele ist stark. Glaubst du, eine einfache Seele hätte die Wiedergeburt von Eason als Bruder? Oder ein mächtiges
Ur-Wesen als Gefährten? Du bist stärker als du glaubst, vertrau mir. Wenn deine Fähigkeiten zurück kommen, und das werden sie, fürchte dich nicht vor ihnen. Du kontrollierst sie, nicht umgekehrt. Und denke niemals, du seist alleine. Denn das wirst du nie sein, das verspreche ich dir.
Und, Leon." Saskia sah mich mit festen Blick an.
"Lass nicht zu, dass sie Jeremie töten." Erschöpft ließ Saskia den Kopf ins Kissen sinken und bevor ich was sagen konnte schlief sie ein.
Keine Sekunde später betrat Niclas den Raum.
"Ich glaube nicht, dass sie noch lange macht, Leon. Sie baut täglich weiter ab und schläft fast nur noch. Sie kann alleine nicht mal mehr das Bett verlassen."
Ich schloss die Augen und versuchte mit meinen Gefühlen klarzukommen. Aber die Trauer war so intensiv. Fast schon zu greifen. Und als ich Niclas ansah, wusste ich auch wieso.
Das waren zum Teil auch seine Gefühle. Jetzt verstand ich Ron richtig. Die Trauer fühlte sich furchtbar an, aber gleichzeitig war da auch dieses freudige Kribbeln in meinem Fingern, das noch mehr wollte. Mehr von diesem Gefühl.
Schnell verließ ich den Raum, ich wollte das nicht fühlen, kein Lebewesen sollte sich so am Leid anderer ergötzen. Das war nicht richtig. Das war abartig.
Hastig betrat ich mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Obwohl ich nicht müde war, hatte ich plötzlich das Bedürfnis zu schlafen. Aber als ich einen Schritt nach vorne machte, hörte ich ein Knirschen.
Überrascht sah ich nach unten und was ich sah, sorgte dafür, dass mein Herz einen Hüpfer machte. Schnell ging ich zu meinem Regal und blieb ruckartig stehen, als ich es sah.
Die Schale des Eis lag über den Boden verteilt. Und auf dem Kissen lag anstelle eines wunderschönen Dracheneis ein noch schönerer, kleiner Drache.

Der Bruder des SehersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt