Kapitel 47 ~ Panik

1.2K 130 3
                                    

PoV Ronald

Ich bemerkte, wie Niclas den Raum besorgt musterte. Allerdings dachte ich mir nichts dabei, immerhin war er hochgradig emotional gerade. Deswegen bemerkte ich auch nicht, wie er aufeinmal neben mir stand.
"Was ist?" fragte ich genervt und warf Niclas einen gereizten Blick zu. Im Moment hatte ich deutlich wichtigere Dinge zu tun, als mich um Niclas zu kümmern.
Offensichtlich fühlte Niclas sich unwohl unter meinem Blick, aber das war nebensächlich.
"Leon ist gerade gegangen." Ich scannte kurz den Raum ab und stellte fest, dass Niclas recht hatte. Allerdings musste er sich noch im Gebäude befinden. Ich hatte an allen Ein und Ausgängen Leute positioniert, die niemanden rein oder raus lassen sollten. Deswegen machte ich mir keine Sorgen.
"Er kommt hier nicht weg. Und viel anstellen kann er hier auch nicht." Leider fiel es mir schwer mich zu konzentrieren, wenn ich nicht wusste, was Leon gerade trieb. Aber auch er war gerade nicht die Priorität des Ganzen. Das würde warten müssen. Aber Niclas sah das anders und ich sah deutlich, wie beunruhigt er war.
"Du verstehst das nicht. Er will helfen, das wollte er immer. Er könnte in die Zukunft sehen!" Auffordert sah Niclas mich an und erwartete offenbar eine Reaktion. Fragend hob ich die Augenbrauen. Was war daran schlimm. Das war es doch, was Wahrsager taten. Vielleicht würde es helfen.
"Er hat es dir nicht gesagt...oder?" Solangsam wurde ich wütend.
"Jetzt spuck es schon aus? Wo ist das verdammte Problem?" Sofort verstummten alle im Zimmer und blickten zu uns. Unsicher sah Niclas sich um, er war immer noch sehr angeschlagen. Die Augenringe und die blasse Haut sprachen für sich.
"Leon ist ein sehr begabter Wahrsager. Andere seiner Art sehen eine Zukunft und zwar die, die im Moment am wahrscheinlichsten ist. Aber bei Leon ist das anders. Er sieht jede Möglichkeit, und wenn die Wahrscheinlichkeit, das sie eintritt noch so klein ist. Und das alles gleichzeitig. Das können schon mehrere Tausend Möglichkeiten in wenigen Tagen sein. Und jetzt stell dir vor, du siehst tausend verschiedene Möglichkeiten eines Tages, verbunden mit den Gefühlen der Personen, die vorkommen. Was glaubst du, wie viele Bilder und Emotionen der menschliche Körper gleichzeitig verarbeiten kann? Als wir rausfanden, wie weit Leons Fähigkeiten gehen, haben wir angefangen Grenzen zu suchen und uns an ihnen zu bewegen. Und das haben wir bis heute noch nicht geschafft. Mit fünfzehn hatte Leon das erste Mal einen Herzstillstand. Mit neunzehn das zweite Mal. Und beide Male konnten sie ihn nur knapp zurückholen. Beim zweiten mal hatten wir uns eigentlich schon darauf vorbereitet, ihn in einen Vampir zu verwandeln. Wenn er jetzt ohne Überwachung einfach in die Zukunft sieht..." Niclas ließ den Satz im Raum stehen, während ich die Worte erst
schlucken musste.
Herzstillstand.
"Sucht ihn! Bringt ihn wieder her!" befahl ich zwei meiner Leute und verfluchte mich dafür, dass man die Panik in meiner Stimme deutlich hören konnte. Ich hatte mich nicht auf diese Bindung eingelassen, um Leon jetzt direkt wieder zu verlieren.
"Er wird nicht mehr hier sein." rief Niclas mir hinterher, als ich nach oben ging.
"Er ist bei Erik und Crispin aufgewachsen, er weiß, wie man sich davon schleicht. Jerom....hat es ihm beigebracht." Der Schmerz in Niclas Stimme war nicht zu überhören. So wollte ich mich nicht fühlen. Wir mussten Leon finden, sonst würde ich meinen Verstand verlieren. Ich krallte eine Hand in meine Haare. Wie sollten wir ihn dann finden?
Oder vielleicht irrte Niclas sich auch, und Leon lag in meinem, unserem, Zimmer.
Niclas sah meine Zweifel.
"Ich habe diesen Jungen mit aufgezogen. Ich kenne ihn und seine dummen Ideen."
"Wie sollen wir ihn finden?" fragte ich und ging schnellen Schrittes Richtung Ausgang. Niclas folgte mir.
Die schwüle Luft schlug mir entgegen und ich verzog das Gesicht.
"Er ist dein Gefährte. Du kannst ihn immer finden. Nach einer Weile wusste ich immer wo....er  war. Selbst wenn ich es nicht wollte." Kurz unterbrach Niclas und sah sich um.
"Aber damit solltest du dich beeilen. Er wird wissen, dass wir ihn suchen."

Der Bruder des SehersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt