Kapitel 43 ~ Leer

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PoV Leon

Drei Tage war es nun her, dass ich Ronald das letzte Mal gesehen hatte. Und auch wenn ich es nicht zugeben wollte, irgendwo fehlte er mir.
Ach man, selbst das war gelogen. Es fühlte sich an, als wäre ich erneut verlassen worden. Dabei war Ronald nicht mal weit weg.
Er, Alex und Leonie hatten sich im Keller verschanzt, um die ersten Schritte gegen Jeremie zu planen. Wieso ich nicht dabei sein durfte, wusste ich nicht. Die offizielle Version war, dass Ronald sich konzentrieren musste, immerhin hatte er schon ganze Kriege geführt und unzählige erlebt. Offenbar würde meine bloße Anwesenheit ihn aus der Bahn werfen.
Ich schnaufte bei dem Gedanken. Vorher ging es doch auch.
Aber statt zu versuchen mich einzumischen oder zu schmollen, half ich Niclas zurück ins Leben. Eigentlich hatten wir Jerom bei Evan und Amanda an der Villa begraben wollen, aber da kamen wir jetzt so schnell nicht hin, weswegen wir seinen Körper verbrannten. Die Urne konnten wir im Nachhinein noch beerdigen.
Es tat immernoch unsagbar weh. Manchmal wunderte es mich, dass mein Herz noch einwandfrei schlug. Es war in letzter Zeit so oft gebrochen worden, von Mia, von der Entführung an sich, von Ronalds Worten und letztendlich durch den Tod von Jerom.
Eigentlich bekam ich kaum noch etwas um mich herum mit. Ronalds Kette hatte ich abgelegt. Ich wollte nichts tragen, dass ihm gehörte. Also waren keine Nacht später die Visionen und Alpträume zurückgekehrt, die Schlaf fast unmöglich machten.
Da es Niclas aber nicht anders ging, machten wir zusammen die Nächte durch. Zudem verweigerte Niclas die Einnahme von Blut. Jahrelang hatte er sich nur von Jeroms Blut ernährt, er könne kein anderes mehr trinken.
Also stand ich seit drei Tagen nach einer schlaflosen Nacht müde aus meinem Bett auf, trank so viel Kaffee, wie ich bei mir behalten konnte, half Niclas durch den Tag und legte mich Abends ins Bett, wo ich mit meinen eigenem Dämonen kämpfen mussten.
Drei Tage sind keine lange Zeit?
Drei Tagen können die Hölle sein.
Aber heute war etwas anders. Ich wusste nicht was, aber ich bemerkte es sofort.
Der Schmerz in meiner Brust, der mir das atmen so schwer gemacht hatte, die schwere meiner Gliedmasen, die mich zu Boden ziehen wollte, die quälenden Gedanken, all das war verschwunden, als ich am vierten Tag aus dem Bett stieg.
Das einzige, was ich noch spürte, war Leere. Wie ein großes Nichts in mir.
Mein Kopf nahm die Dinge um mich herum war, dachte aber nicht darüber nach.
Mein Körper führte gezielt die gewünschten Bewegungen durch, allerdings spürte ich das kaum.
Mein Herz diente lediglich noch der Blutversorgung meines Körpers.
Es war mir egal, dass Ronald sich lieber in Keller verkroch, als mir zu helfen.
Es war mir egal, dass Niclas wieder einmal nicht sein Blut zu sich nahm und bald verhungern würde, sollte er es nicht bald tun.
Wahrscheinlich wäre es mir sogar egal, wenn Jeremie jetzt durch diese Tür käme und mir den Hals umdrehen würde.
Statt mich also anzuziehen, etwas zu essen oder mich sonst zu beschäftigen, blieb ich einfach im Bett liegen und tat gar nichts.
Eine Minute lang.
Eine Stunde lang.
Einen Tag lang.
Zwischenzeitlich musste ich eingeschlafen sein, so tief, dass ich nichtmal Visionen hatte. Aber Erholung fand ich keine.
Am fünften Tag wurde mir bewusste, dass etwas nicht stimmte. Nicht mit meiner Umwelt, Niclas oder sonst jemanden.
Sondern mit mir. Ich war für diesen Druck nicht geschaffen, ich war nicht wie mein Bruder. Leider hinterließ auch dieser Gedanke keine nennenswerten Gefühlsregungen bei mir.
Eigentlich wollte ich liegen bleiben. Wie die letzten Stunden auch. Aber plötzlich wurde meine Tür aufgerissen und ein wütend aussehender Ronald betrat den Raum.
Normalerweise hätte mir dieser Ausdruck angst gemacht. Heute nicht.
Bevor ich etwas sagen konnte, wurde ich grob am Arm gepackt und stolperte Ronald hinterher in die Küche.
Er schubste mich auf einen Stuhl und stellte einen Teller Gemüsesuppe vor mich.
Ich sah zu Niclas, der ebenfalls hier saß und unter Ronalds strengem Blick seine Portion Blut trank.
"Wenn einer von euch beim Kampf stirbt, soll es mir recht sein! Aber keiner vegetiert sich in meinem Haus zu Tode, ist das klar!?" brüllte Ronald durch die Küche und man spürte deutlich die Hitze, die von seinem Körper ausging.
Zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten fühlte ich wieder was, dieses leichte Kribbeln in den Fingern, wenn ich durch Ronalds Haare streichen wollte.
An Ronald hatte ich gar nicht gedacht.
Müde sah ich zu ihm hoch. Wir mussten ein erbärmliches Bild abgeben.
"Ich esse. Wenn-" Ronald unterbrach mich.
"Du wirst essen. Und wenn ich es dir reinprügeln muss." Ich nahm den ersten Löffel Suppe. Sie schmeckte lecker, keine Frage, dennoch war es ein komisches Gefühl wieder was zu Essen.
"Ich will uns trennen. Heute noch." brachte ich endlich hervor und begann vorsichtig zu essen.
Ronalds Reaktion sah ich nicht.



Der Bruder des SehersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt