Kapitel 32 ~ Ron's Seele

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PoV Ronald

Vorsichtig strich ich Leon über die erhitzte Stirn. Lange würde es nicht mehr dauern und bei jedem neuen Fieberschub verzog Leon das Gesicht. Es musste sehr unangenehm sein, allerdings wusste ich auch nicht, wie viel er noch mitbekam.
"Ich habe mir über achtzehn Jahre lang eingeredet, nichts für Jerom zu empfinden." ertönte Niclas leise Stimme. Er lehnte am Türrahmen und musterte Leon traurig.
"Bei mir ist das was anderes. Ich habe mehr Leute, die mich tot sehen wollen, als du überhaupt kennst. Selbst wenn ich ich wöllte, es wäre viel zu gefährlich jemanden zu lieben." Ich klang teilnahmslos und genau das hatte ich auch beabsichtigt. Wenn Leon starb, wollte ich das nicht zu nah an mich rankommen lassen.
Niclas rückte ein Stück zur Seite und Leonie trat mit der Schatulle in den Raum.
In dieser Schatulle befand sich das Mittel, um Leon das Leben zu retten. Aber er sollte selbst entscheiden, ob er es wollte.
"Was ist da drinne?" fragte Niclas misstrauisch, als Leonie die Schatulle abstellte und mich dann aufmunternd anlächelte.
"Meine Seele." erklärte ich Niclas knapp und fassunglos sah er mich an. Sein Mund stand ein Stück weit offen.
"Deine Seele? Wie kommt deine Seele in eine Schatulle?" Seinem Ton nach zu urteilen, zweifelte er an meinen Worten.
"Ganz einfach." erwiderte ich trocken und hielt seinem Blick stand.
"Indem ich sie mir rausgerissen habe." Niclas schluckte und suchte offenbar nach den richtigen Worten. Aber welche Worte waren in so einer Situation angebracht?
Hätte er Mitleid? Würde er sich für mich entschuldigen oder mich für verrückt erklären?
All das war mir egal. Gerade zählte nur Leon.
"Vor zwanzig Jahren kam ich in ein riesiges Haus und bedrohte einen Vampir, damit ich einen vierjährigen Jungen entführen konnte. Er war ein Wahrsager und unglaublich begabt für sein Alter. Und dann sagte er etwas, was mich erschütterte. Und ich glaubte ihm jedes Wort."

*Flashback*

"Ich will zu meinem Bruder."  jammerte das kleine Kind und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Ziemlich mutig für sein Alter.
"Du wirst ihn bald wieder sehen. Aber vorher möchte ich, dass du etwas für mich findest." Trotzig verschränkte Leon die Arme und machte eine Schmolllippe.
Kinder waren so anstrengend.
"Das wird dir noch leid tun." versprach Leon mit so fester und klarer Stimme, dass ich fast vergaß, dass da ein vierjähriges Kind vor mir saß.
"Ach ja? Und wann?" fragte ich amüsiert fest.
"Jetzt lachst du noch über mich. Aber wenn wir uns das nächste Mal sehen und unsere Seelen den unsterblichen Bund eingehen, wirst du es nicht mehr tun."

*Flashback Ende*

"Er wusste immer, dass wir Gefährten sind. Er hat es nur im Laufe der Zeit vergessen." flüsterte ich und hörte, wie Niclas scharf Luft einsog.
"Leon...und du? Ihr seid...du? Wieso denn du!? Du bist Leon kein bisschen ähnlich, Gefährten sind sich charakterlich immer ähnlich!" Offensichtlich gefiel Niclas der Gedanke nicht, dass ich Leons Gefährte war.
Mir auch nicht. Darum hatte ich ja versucht es zu verhindern.
Aber ändern konnte man es nicht. Zumindest jetzt noch nicht.
"Stimmt. Ich bin Leon nicht ähnlich. Aber er mir." Niclas wollte schon protestieren, aber Leonie ging dazwischen.
"Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Er stirbt!" In dem Moment, an dem ich zu Leon sah, bemerkte ich, wie sich das tödliche Gift weiter seinem Herzen näherte.
"Ich werde diese Entscheidung nicht alleine treffen." sagte ich entschlossen und nahm einen gelblich schimmernden Trank aus einem der Regale.
"Mit diesem Trank wird Leon wieder zu Bewusstsein kommen. Hoffen wir, dass es nicht zu schmerzhaft ist." Das hoffte ich wirklich. Ich wollte Leon so viel Leid wie möglich ersparen.
Vorsichtig ließ ich etwas von dem Trank in Leons Mund tröpfeln. Keine zwei Sekunden später fing Leon an zu Husten und ich hielt ihm ein Tuch an den Mund, um das Blut wegzuwischen.
"Ron?" fragte er mit leiser, kratziger Stimme und ich nickte.
"Es tut weh." Seine Stimme brach und eine rot schimmernde Träne lief seine Wange entlang.
Mir brach der Rest von meinem Herzen bei dem Anblick.
"Leon. Hör mir zu. Du bist vergiftet. Du wirst sterben." Leon schluchzte bei dem Satz auf und weiteres Blut lief aus seiner Nase. Seine Lippen färbten sich allmählich blau.
"Ich kann dich retten, Leon. Aber dafür müssen wir uns verbinden. Und das könnte alles noch viel schlimmer machen. Willst du leben oder sterben?" Leons Augen waren so voller Schmerz, es war vielleicht doch keine gute Idee ihn zu fragen.
"Ich...will...leben." Seine Stimme klang gurgelnd, als würde seine Lunge sich bereits mit Blut füllen.
Jetzt waren es nur noch Minuten, die ihm vom Tod trennten.
"Dann wird der Tod noch auf dich warten müssen." flüsterte ich und strich Leon die Haare aus der Stirn.
"Verschwindet." wies ich Leonie und Niclas an. Beide taten es ohne ein Wort zu sagen. Sobald sie den Raum verlassen hatten, öffnete ich die Schatulle.
Seelen waren erstaunliche Dinge. Fast unzerstörbar und unsterblich. Sie enthielten unser ganzes Leben und unsere tief verankerten Emotionen.
Ich wusste, wenn ich meine Seele wieder in mich aufnahm, würde es schwerer werden Gefühle zu kontrollieren und zu ignorieren.
Aber das war im Moment unwichtig.
Als ich den nur noch schwach leuchtenden Ball vor mir berührte, verband er sich sofort wieder mit mir. Als hätte meine Seele nur darauf gewartet. Wahrscheinlich war das auch so.
In der Sekunde, in der meine Seele wieder mit meinem Körper verschmolz, spürte ich es.
Wesen ohne Seele konnten nur bedingt, bis gar nicht liebe. Noch ein Grund, wieso ich sie verschlossen hatte.
Jetzt traf mich das Gefühl dafür viel Intensiver und kurz blieb mir die Luft weg.
Wahrscheinlich hätte ich mich noch länger wegen das komische Gefühl in meiner Brust gewundert, aber dann hörte ich Leon wieder Husten. Und es war eindeutig wieder Blut dabei.
Schnell schritt ich ans Bett und schnitt mir mit meinem Messer in die Handfläche.
Leon war wieder ohnmächtig geworden.
Ich hatte die Gefährtenbindung vom ersten Tag an gehasst. Und ging ich sie bei vollem Bewusstsein ein. Ich musste verrückt sein.
Vorsichtig drückte ich den blutenden Schnitt an Leons Mund, aber er reagierte nicht.
Hoffentlich war ich nicht zu spät.

Der Bruder des SehersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt