Stundenlang bin ich in Englands Kälte umhergeirrt. Habe nach ihm gesucht. Ihn gerufen, aber nicht gefunden. Auch der Portier konnte mir nicht weiterhelfen. Er hat ihn gestern Abend zuletzt gesehen. Ich raufe mir dir Haare und ersticke fast an der Sorge. Seitdem ich aufgestanden bin, fährt mein Herz Achterbahn. Wenn ich mich nicht bald etwas beruhige, muss ich mich ernsthaft fragen, wie ich den Tag überstehen soll.
Als ich den Eingang zum Foyer unserer Apartments erreiche, erwartet mich der Portier schon.
»Herr Heine ist vor ca. einer Stunde nach oben gefahren. Er sah sehr schlecht aus.«, verkündet er mir. Ich kann nicht beschreiben, was für eine Last in diesem Moment von mir abfällt. Gott sei Dank.
»Danke! Wirklich. Danke Mr.«, gebe ich zurück und sprinte schon zum Fahrstuhl.
Wie wild drücke ich auf den Knopf, damit der Fahrstuhl doch endlich kommt. Es dauert gefühlt Stunden, bis die Tür endlich aufspringt.Mein Herz rast als ich den Fahrstuhl in unserer Etage verlasse. Ich schließe die Tür auf und renne hinein.
»Leo?«, schreie ich in die Wohnung. Es kommt keine Antwort. Ich betrete den Wohnbereich und schaue mich nach ihm um. Nix.Ich wende mich zur Küche und entdecke ihn. Endlich. Mein Herzschlag verlangsamt sich und ich bin so froh ihn in Sicherheit zu wissen. Schnelle schieße ich zum ihm und lasse mich auf meine Knie fallen. Er liegt zusammengerollt auf dem Boden und neben ihm steht eine leere Weinflasche. Ich will nicht wissen, was er alles getrunken hat.
Langsam lasse ich meine Hand über seine Haare fahren und ihm entfährt ein Schluchzen, dass sich als grausam schmerzende Welle in mein Herz frisst. Auch mir laufen die Tränen. Doch ganz still.
Er kriecht mit dem Kopf auf meinen Schoß und umklammert mich an der Taille so fest, als wolle er sich im Stillen entschuldigen. Sanft streichle ich sein Haar und seinen Rücken und umklammere ihn.
»Lucy...«, schnieft er. »Mein Va.. mein.. Va«, stottert er und schafft es nicht, es über die Lippen zu bringen.
»Shht... Du musst nicht reden! Ich weiß alles. Habe mit O'Connor telefoniert«, gestehe ich ihm und streichle ihn intensiver.
»Danke«, flüstert er ein meinen Schoß und fängt erneut an zu schluchzen.
Stundenlang sitzen wir in dieser Position auf dem Fußboden. In seiner Küche. Mitten in London und versuchen diese schreckliche Nachricht zu verdauen.
Plötzlich regt sich Leo und versucht aufzustehen. »Ich muss kotzen«, stellt er fest und versucht sich so schnell wie möglich zur Toilette zu begeben. Ich lasse ihm einen kleinen Vortritt und streife in der Zeit meine Jacke ab, die ich noch immer anhabe. Dann folge ich ihm ins Bad und streichle seinen Rücken, als er den Alkohol wieder rückwärts befördert.
Ich bemerke, dass unter seinen Knien Blut hervorrinnt und stelle fest, dass der ganze Fußboden noch mit Scherben übersäht ist. Schnell hole ich aus der Küche einen Besen und fege die Scherben schnell in eine Ecke zu einem Haufen. Nur um sicherzugehen, dass sich niemand weiter verletzt. Leo betätigt die Spülung und lässt sich an die Wand sinken. Vorsichtig gehe ich auf ihn zu und schaue wo das Blut herkommt. Seine Knie hat er aufgestellt, vermutlich stört es ihn nicht einmal.
»Lass mich das anschauen«, flüstere ich ihm zu.
Sanft reiße ich seine eh schon zerrissene Jeans an den Knien auf und entdecke eine relativ große Scherbe, die nun in seinem Knie steckt.
»Leo? Ich muss da eine Scherbe rausziehen. Das tut sicher weh«, gestehe ich, worauf Leo stumpf nickt.
Erneut hole ich Verbandszeug aus dem Medizinschrank, um seine Wunde zu verarzten. Ich sprühe ordentlich Desinfektionsmittel direkt auf die Wunde. Leo verzieht nicht mal das Gesicht. Dann ziehe ich mir einen Handschuh an und ziehe die Scherbe raus. Mit der anderen Hand drücke ich direkt eine Kompresse auf die offene Stelle, die sofort anfängt weiter zu bluten. Ich verbinde sein Knie und entsorge danach die Scherben und das Verbandszeug aus dem Bad.
Mir fällt ein, dass ich Hannah unbedingt einen aktuellen Stand geben muss. Damit Leo nicht alles mitanhören muss, gehe ich auf die Dachterrasse und rufe Hannah von dort aus an.
Ich erzähle Hannah, dass Leo verschwunden war, ich dann Brain O'Connor angerufen habe. Dass ich herausgefunden habe, dass er ein enger Freund der Familie ist und dass Leo's Vater vorletzte Nacht an einem Herzinfarkt zu Hause verstorben ist. Dass Brain ihn vorgefunden hat und nachdem die Polizei und der Notarzt da waren, festgestellt wurde dass er einen nicht vorhersehbaren Herzinfarkt erlitten hat.
Ich erzähle, dass ich Leo verarzten musste, ihn gesucht und wiedergefunden habe und dass unsere Nerven am Ende sind. Dass ich nicht weiß wie es weitergehen soll.
Hannah spricht mir gut zu und ich beende das Telefonat schnell wieder, um nach Leo zu sehen.
Er sitzt noch immer im Bad.
»Brauchst du was? Ich bin da. Egal was du brauchst«, flüstere ich.Er schaut zu mir hoch und schaut mir in die Augen. So tief, dass mir fast die Tränen kommen, als ich seinen Schmerz und seinen Verlust erkennen kann.
»Ich brauche dich«, gibt er gebrochen wieder.
Ich verstehe nicht genau, was er damit meint. Braucht er mich um sich anzulehnen oder wünscht er sich, jetzt mit mir zu schlafen? Egal was es ist, ich wäre bereit ihm alles zu geben. Nur damit seine Wunden heilen. Falls sie überhaupt verheilen. Sein Dad war der letzte seiner Familie. Er ist nun allein. Es gibt niemanden mehr außer mir..., stelle ich mit Erschrecken fest.
»Komm her...«, flüstert er.
Langsam nähere ich mich ihm und lasse mich neben ihm an der Wand nieder. Er legt seinen Kopf erneut auf meinen Schoß. Ich streichle seinen Kopf und so sitzen wir wieder Stunden dort. Der Abend bricht langsam heran und ich kann die drohende Dunkelheit schon langsam spüren. Das alles erinnert mich so sehr an den Tod meiner Eltern. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte, ohne nicht selbst vor die Hunde zu gehen.
Da sich Leo's Atmung verlangsamt hat, vermute ich, dass er auf meinem Schoß eingeschlafen ist. Also sitzen wir noch eine ganz Zeit weiter dort, da ich ihn nicht wecken möchte. Auch mich übermannt irgendwann der Schlaf.
Als ich kurze Zeit später zu mir komme, erkenne ich dass wir nebeneinander auf dem kalten Fußboden im Badezimmer liegen. Ich halte ihn von hinten umklammert. Vermutlich muss ich ihn geweckt haben, denn seine Atmung geht mit einem mal wieder schneller.
»Babe...«, flüstert er und ich bekomme eine gewaltige Gänsehaut. Seine Stimme ist so rau und trieft vor Trauer.
»Ja?«, frage ich vorsichtig.
»Wann hört der Schmerz endlich auf? Wie lange noch?«
Bei dieser Frage kommen mir die Tränen. Nicht nur weil ich weiß wie er leidet. Nein, auch weil ich weiß, dass die Wunden niemals heilen. Das man immer trauert. Nur irgendwann beginnen die Erinnerungen zu verblassen, sodass die Erinnerungen schwinden. Nicht aber die Wunden. Die bleiben. Es reicht ein Lied, ein Geruch, eine Geste, ein Gericht oder auch ein Foto und die Erinnerungen sind wieder da und befeuern die offenen Wunden.
Ich will ehrlich zum ihm sein, also antworte ich: »Eine Weile...«
»Leo... Lass uns duschen. Du bist völlig dreckig. Es wird dir danach etwas besser gehen«
»Nein«, murmelt er und ich hoffe, dass wir jetzt nicht wieder am Anfang stehen und er sich gegen alles und jeden sperrt. »Lass uns baden. Zusammen.«, murmelt er.
»In Ordnung. Ich lasse das Wasser ein«
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Faces - Enough for love?
RomanceLucy studiert PR und ist mit ihrem langweiligen Studentenleben mehr als zufrieden. Doch dieser Unfall und diese Begegnung stellen ihr ganzes Leben auf den Kopf. Sie ist eigentlich ein ganz braves Mädchen, aber plötzlich tut sie Dinge, die sie sonst...