Wie Doof Kann Man Sein?

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Ich laufe die Straße zu unserer kleinen Wohnung entlang. Wir haben den 07. Mai 1993 und ich komme gerade von der Arbeit. Arbeiten tue ich seit meinem 12. Lebensjahr, da mein Vater nur trinkt und unser Geld verzockt. Ich weiß, dass, wenn ich nach Hause komme, er wieder betrunken sein wird. Er wird mich wieder beschimpfen und mir sagen, dass er mich hätte aussetzen sollen. Und er wird mich wieder schlagen, weil ich den Abwasch noch nicht gemacht habe. Und er wird mir sagen, bei welchem seiner Kumpel ich heute Abend die Lolita spielen darf. Das mache ich, seit ich sieben bin. Irgendwie muss ich ja das Geld zum Überleben beschaffen. So in Gedanken versunken bemerke ich nicht die anderen Menschen um mich herum und so kommt es, wie es kommen muss, und ich renne volle Kanne in jemanden hinein. „Oh verdammt, es tut mir leid!", rufe ich aus, als der Junge mir gegenüber verwirrt blinzelt, doch er entgegnet: „Kein Problem." „Ist ja nix passiert." Ich schaue auf und muss erstmal schlucken. Man ist er hübsch. Uiuiui.... Er lächelt mich verlegen an: „Hast du vielleicht Lust auf einen Kaffee? So auf den Schreck? Ich sehe auf meine Uhr. Es ist halb drei... Naja, komme ich halt später nach Hause, ist ja nicht schlimm. „Ja, gerne." Schüchtern lächel ich ihn an und er strahlt zurück. „Ich bin übrigens Paddy", sagt er dann und reicht mir seine Hand. „Joelle." entgegne ich und nehme sie. Zusammen gehen wir zu einem kleinen Café in einer Seitenstraße. Er hält mir die Tür auf und ich gehe hinein.


Kaum haben wir uns hingesetzt, da kommt auch schon die Bedienung und fragt, was wir haben möchten. „Einen Kaffee für mich und meine Freundin bitte." sagt Paddy freundlich zu ihr, doch er hat nur Augen für mich. Als die Bedienung weg ist, frage ich ihn amüsiert: „Soso, ich hin also deine Freundin, ja?" „ Er wird rot: Ähm... Also... Es hörte sich einfach besser an, außerdem ist das ein Café für Paare. „ Mein Gott, er schämt sich ja richtig. „Hey Paddy, kein Problem. „Ich finde es echt süß von dir", sage ich schnell, damit er nicht denkt, dass er was Falsches gesagt hat. Wieder lächelt er sein bezauberndes Lächeln: „Wo kamst du eigentlich vorhin her? „ „Ach, ich war arbeiten." Mein Vater ist, äh... „Er ist krank und kann deshalb nicht arbeiten und so muss ich es tun, damit wir genug Geld haben." antworte ich hastig. Paddy runzelt die Stirn: Gehst du nicht zur Schule? „Nein, ich habe mit 14 geschmissen, weil ich mich um meinen Vater kümmern muss. Und du? „ Er schüttelt den Kopf: „Ich auch nicht." „Mein Papa ist großer Befürworter der Homeschooling-Bewegung und deshalb wurde und werde ich zuhause unterrichtet." Mit offenem Mund sehe ich ihn an: „Wie cool ist das denn?" Ich kann zwar lesen, rechnen und schreiben, aber habe keinen Abschluss und werde es schwer haben, eine Lehrstelle zu bekommen. Aber ist Homeschooling nicht eigentlich verboten?, frage ich ihn dann. Er grinst: „Wir sind viel unterwegs und immer, wenn die Behörden uns auf die Schlangen gekommen sind, dann ab und weg." Wir waren lange in einem roten Doppeldecker unterwegs und jetzt haben wir ein Hausboot. „ Paddy erzählte mir, dass er elf Geschwister hat, aber die davon im Ausland leben, dass seine Familie von der Musik lebt und dass sie mal Straßenmusiker waren. Ich erzähle ihm, dass ich seit 11 Jahren in Deutschland wohne und ursprünglich aus Irland komme. „ Krass, echt jetzt? „Ich bin auch Ire." Freut er sich. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt und als ich auf meine Uhr sehe, ist es halb sechs. „Paddy, so schön es mit dir ist. „Ich muss nach Hause!", meine ich bedrückt. Er nickt und zusammen gehen wir nach draußen. „Sehen wir uns wieder?", fragt er hoffnungsvoll und ich lächel: „Sehr gerne." Morgen?„
Er nickt und fragt: „Wann und wo?" Ich überlege kurz. Meinem Vater kann ich sagen, dass ich arbeiten muss. Eigentlich habe ich ja frei...
„Ich kann ab morgens.", sage ich und er grinst: „Komm bitte morgen früh um zehn zum Rhein." Ich nicke und wir verabschieden uns und ich mache mich auf den Weg, meine Strafe abzuholen.

Als ich nach Hause komme, erwartet mich mein Vater schon. Und als ich eine halbe Stunde später in meinem Zimmer sitze, mag ich gar nicht in den Spiegel schauen. Mein Auge ist ganz rot. Verdammt, was erzähle ich morgen, Paddy? Als ich an ihn denke, muss ich lächeln. Er ist so ganz anders, als alle Menschen, die ich kenne. Er hat mir heute echte Wertschätzung entgegengebracht... Wow. Mit den Gedanken an den heutigen Nachmittag gehe ich schlafen und ich träume von ihm... Zum ersten Mal seit Jahren habe ich keinen Albtraum. Am Morgen stehe ich ganz früh auf und mache mich fertig. Als ich in die Küche komme, sitzt mein Vater am Tisch... Hmm, Wodka zum Frühstück. Lecker... „Wohin?", fragt er mich unfreundlich. „Arbeit!" entgege ich, nehme meinen Schlüssel und bin auf und davon...

I Feel Love - Gerettet in deinen Armen (Abgeschlossen) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt