27~ So wie ein Bruder seine Schwester

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Quälend schalte ich das schrille Klingeln meines Weckers aus. Mein Kopf dröhnt, und mein Körper fühlt sich an, als hätte er die Nacht über keinen einzigen Moment Ruhe gefunden. Kein Wunder, schließlich hatte ich wieder denselben Albtraum. Der von Fynn. Seit Monaten verfolgt er mich und raubt mir jeden erholsamen Schlaf. Ich bin müde – nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Als ob mein Gehirn nicht akzeptieren könnte, dass es vorbei ist. Langsam öffne ich die Augen, mein Blick ist verschwommen. Doch als er schärfer wird, entfährt mir ein panischer Schrei.

Gina. Sie sitzt direkt vor meinem Bett, reglos, ihre Augen auf mich gerichtet, wie die einer Wachpuppe.
„Verdammt, Callie! Was schreist du so?“, zischt Mia und richtet sich schlaftrunken im Bett auf. Ich raffe mich auf und zeige mit einem zittrigen Finger auf Gina. „Tut mir leid, Mia! Aber ich habe mich erschrocken. Sie... sie starrt mich an!“

Jetzt wendet auch Mia ihren verschlafenen Blick auf Gina, die weiterhin seelenruhig auf meinem Bettpfosten hockt, als wäre das das Normalste auf der Welt. Gemeinsam starren wir sie an, mit einer Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit. „Ich starre nicht. Ich beobachte“, sagt sie ruhig, beinahe belehrend.

Das ist doch nicht normal, denke ich und lasse mich zurück in die Kissen sinken. Wer beobachtet denn bitte Menschen im Schlaf? Mia scheint ähnlicher Meinung zu sein, denn sie schnaubt genervt und fährt Gina an. „Sag mal, Gina, wie lange sitzt du da eigentlich schon?“ Gina hebt beiläufig ihr Handgelenk und wirft einen Blick auf ihre Uhr.

„Seit fünf Uhr.“ Fünf Uhr? Mein Magen zieht sich zusammen. „Zwei Stunden?!“, keift Mia. „Das ist doch nicht normal! Warum machst du so was?“ Gina zuckt die Schultern. „In einer Stunde gibt es Frühstück. Ich dachte, ihr solltet aufstehen.“

Ich stöhne auf und vergrabe mein Gesicht im Kissen. Natürlich meint sie das ernst. Warum auch nicht? Sie ist Gina. Aber ich kann nicht anders, als vor mich hin zu fluchen. Der Wecker war nur für den Spaß um sieben Uhr gestellt worden, in der Hoffnung, dass wir wenigstens ein bisschen Schlaf bekommen. Stattdessen sieht es so aus: Ich bin übermüdet, Mia ist verkatert, mein Arm tut höllisch weh – und dann das hier. Ginas eiskalter Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Beobachten, nennt sie es. Psychopathen nennen es wahrscheinlich genauso.

Schwerfällig schleppen Mia und ich uns an den Frühstückstisch. Wir sagen kein Wort. Ich glaube, uns beiden fehlt die Energie, um auch nur ein Gespräch anzufangen. Ich starre in meinen Kaffee, meine Hand ruht schützend auf der Wunde an meinem Arm. Mia sieht genauso fertig aus wie ich. Irgendwann bricht sie die Stille.
„Tut dein Arm noch weh?“ Sie deutet auf meine Hand.

„Ja, schon“, murmele ich. „Aber es ist auszuhalten.“ Sie nickt verständnisvoll, dann verzieht sie das Gesicht.
„Und dein Kater?“ frage ich, obwohl die Antwort offensichtlich ist. Sie schüttelt nur stumm den Kopf.

Das Schweigen kehrt zurück, bis Brayen und Ivan plötzlich vor uns auftauchen. Ihre Gesichter strahlen vor Energie, was ich angesichts meiner eigenen Verfassung einfach nur als Provokation empfinde.
„Na, ihr Süßen? Alles gut?“, fragt Ivan viel zu laut. „Shhh! Nicht so laut!“, zischt Mia und verzieht das Gesicht, während sie sich die Stirn reibt. „Oh“, sagt Ivan und grinst amüsiert. „Sie hat einen Kater.“

Er beugt sich zu ihr und streichelt ihr beruhigend über den Kopf, bevor er sich neben sie setzt. Mia lächelt sofort, und ihre Augen leuchten. Na, die hat es ja voll erwischt. Innerlich stöhne ich. Ich hoffe, dass sie nicht zu einer dieser Freundinnen wird, die ständig von ihrem Partner reden und so tun, als wäre die Welt nur noch rosarot. Das würde ich wirklich nicht ertragen.

„Wie sieht’s aus mit deinem Arm?“, fragt Brayen plötzlich und rutscht näher an mich heran. „War echt krass, dass du das einfach durchgezogen hast.“ Ich zucke die Schultern. „Es tut noch weh, aber es bringt mich nicht um.“ „Zeig mal her.“

Widerwillig ziehe ich meinen Pullover hoch und halte ihm meinen Arm hin. Er löst vorsichtig den Verband ein Stück und betrachtet die Wunde, bevor er mit seinem Daumen kleine Kreise auf meinem Handrücken streicht. Seine Berührung ist überraschend sanft. Zu sanft, für ein freundschaftlichen Verhältnis, welches wir eigentlich haben.

„Das wird schon wieder“, sagt er mit einem leichten Lächeln und schaut mich direkt an. Sein Blick bleibt länger auf mir hängen, als mir lieb ist. Äh, was soll ich jetzt sagen? Mein Kopf fühlt sich plötzlich leer an.
„Ähm, naja, also... wir sollten...“, stammele ich und stehe hastig auf. Mia folgt mir, und gemeinsam bringen wir unser Tablett zum Wagen mit dem schmutzigen Geschirr. Als wir außer Hörweite sind, grinst Mia mich plötzlich an.

„Ich glaube, Brayen steht total auf dich“, sagt sie unverblümt. Ich sehe sie entgeistert an. „Was? Jetzt echt?“ „Ja, er war sogar einer der Ersten, die Anspruch auf dich erhoben haben.“ „Anspruch?“, wiederhole ich ungläubig. Was ist das hier, eine Auktion?
„Ja, das läuft hier so. Ist doch nichts Neues.“
Ich drehe mich unauffällig um und sehe, wie Brayen gerade verträumt in sein Brötchen beißt. Irgendwie niedlich. „Also, schlecht sieht er ja nicht aus...“, gebe ich zu.
Mia lacht, und ich kann nicht anders, als mitzulachen.

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Masons Sicht:

„Sag mal, was läuft da zwischen Brayen und Callie?“, frage ich Gideon, während ich meinen Blick nicht von ihnen abwenden kann. Genau in dem Moment, als ich zu ihnen schaue, nimmt Brayen ihre Hand und streichelt darüber. Wieso? Kann er sich nicht einfach zu jemand anderem setzen? Oder sie vielleicht? Es gibt genug Mädchen, mit denen sie reden könnte. Aber nein, Callie muss natürlich immer mit den Jungs abhängen.

„Ich weiß nicht“, sagt Gideon achselzuckend. „Ich glaube, da läuft nichts. Jedenfalls habe ich sie bis gestern Abend immer nur kurz reden sehen.“

„Wieso? Bist du etwa eifersüchtig?“, fragt er plötzlich und mustert mich mit diesem grinsenden Blick, der mich wahnsinnig macht. „Nein, bin ich nicht“, sage ich scharf. „Du weißt genau, wie ich das finde, wenn Mitglieder der Gang was miteinander anfangen.“

„Ach ja? Ich bin doch auch mit Lucy zusammen. Und Mia hat steht auf Ivan. Das stört dich nicht.“

„Das ist was anderes.“
„Warum?“
„Weil Mia wie meine Schwester ist. Und du bist mein bester Freund. Euch gönne ich das.“
„Und Callie gönnst du kein Glück?“
Ich verziehe das Gesicht. „Doch. Aber es geht ums Prinzip. Callie ist impulsiv, aufbrausend, und Brayen ist das komplette Gegenteil. Das kann einfach nicht funktionieren.“

Gideon mustert mich nachdenklich. „Du kannst dir das ruhig weiter einreden, Mason. Aber ich sehe, was ich sehe.“ Ich verdrehe die Augen. „Gefühle sind nichts für mich. Liebe erst recht nicht.“ Gideon schüttelt den Kopf und klopft mir auf die Schulter. „Weißt du, Gefühle sind nichts Schlechtes. Erst recht nicht Liebe. Vielleicht solltest du dich nicht dagegen wehren.“

Ich ignoriere ihn. Liebe existiert in meiner Welt nicht. Es hat sie nie gegeben, und das ist auch gut so. Aber als ich Callie lachen höre, kann ich nicht anders, als wieder hinzusehen. Was gibt es denn da so Lustiges? Mein Magen zieht sich zusammen, und ich balle unwillkürlich die Fäuste als ich höre was sie zu Mia sagt.

„Würdest du nichts für sie empfinden, wärst du jetzt nicht so wütend, dass sie andere Jungs heiß findet“, sagt Gideon leise, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. „Ich mag sie einfach. Wie eine Schwester. Mehr nicht.“

Doch seine Worte hallen in meinem Kopf nach. Vielleicht mehr, als ich zugeben will.

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