28~ Der Sternenhimmel

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„Es ist so langweilig..." gibt Mia von sich, ihre Stimme klingt leise und etwas müde. Sie sitzt neben mir auf der Bank im Museum, während wir die Gemälde betrachten. Ich verstehe sie nicht. Die ganze Zeit nörgelt sie, doch ich finde es einfach wunderschön hier. Um uns herum hängen Kunstwerke, die die verschiedensten Emotionen und Geschichten erzählen. Ich kann mich gar nicht sattsehen an den Farben, den Formen, der Tiefe in den Bildern. „Ich kapiere nicht, was du an Kunst so langweilig findest", sage ich schließlich und blicke auf ein großes Gemälde, das uns gegenüber an der Wand hängt. „Das hier zum Beispiel. Was meinst du, hat der Maler damit ausdrücken wollen? Welche Gefühle sind in ihm vorgegangen?" Ich ziehe sie zu einem der Gemälde, das besonders auffällt. Die Farben sind wild und kräftig, und es scheint eine ganz eigene Energie aus dem Bild zu sprechen.

Mia sieht sich das Gemälde an, aber ihre Augen blitzen nur kurz, dann fällt ihr Blick wieder ab. Sie zuckt mit den Schultern und verzieht das Gesicht. „Keine Ahnung. Alles, was ich hier sehe, ist ein wildes Durcheinander an Farben. So ein Chaos kann doch nichts ausdrücken", sagt sie mit einem genervten Tonfall.

Ich schüttle den Kopf und versuche, ihr zu erklären, was ich sehe. „Dieses Bild strahlt pure Trauer und Erschöpfung aus. Es ist wie ein Engel, der ans Licht möchte und von der Dunkelheit eingesperrt wird. Einfach schön."

Nichts verstehend sieht sie mich an, als hätte ich einen Witz gemacht. „Also, ich verstehe nicht, wie du da einen Engel in Dunkelheit und Licht erkennen kannst. Was magst du eigentlich noch? Das Ballett vielleicht?" fragt sie mit einem leichten Lächeln, das aber eher ironisch wirkt.

Ich seufze innerlich. Was ist an ihr nur so schwer zu verstehen? „Du hast einfach keine Ahnung, Mia", sage ich und schüttele ungeduldig den Kopf. „Und außerdem weiß ich nicht, ob ich das Ballett mag. War noch nie in einem, aber ich würde gerne mal hingehen."

Sie lacht laut los, und ich kann mir ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. „Du bist echt anders", sagt sie, als sie sich wieder beruhigt. „Das ist gut so", erwidere ich und zucke mit den Schultern. Wir lachen beide, aber es fühlt sich irgendwie befreiend an. Manchmal muss man einfach über solche Kleinigkeiten schmunzeln.

Doch plötzlich ertönt ein scharfes „Schhhh!" von ein paar Schülern, und unsere Lehrer werfen uns einen bösen Blick zu. „Wenn Sie nicht aufpassen, dann können Sie uns doch was über den Sternenhimmel von van Gogh erzählen", sagt unsere Führerin mit einem Hauch von Sarkasmus in der Stimme.

„Liebend gerne", antworte ich spontan und spüre, wie sich alle Augen im Raum auf mich richten. „Also", beginne ich und räusper mich, „früher meinte man, dass Vincent sich hingestellt hat und das gemalt hat, was er gesehen hat - also den Sternenhimmel. Doch weil er zu der Zeit, als das Gemälde entstand, psychische Schwierigkeiten hatte und in einer Nervenheilanstalt lebte, durfte er nur in Begleitung nach draußen. Daher geht man davon aus, dass er aus seinem Zimmer heraus das Bild gemalt hat. Hinterher hat er es dann aus seinen Erinnerungen entnommen und es auf die Leinwand übertragen. Er selbst war von dem Gemälde nicht gerade begeistert, weil es nicht seinen Erwartungen entsprach. Aber es war für ihn wie eine religiöse Zuflucht." Ich mache eine kurze Pause und blicke in die Runde. „Das Dorf unten ist teilweise nur erfunden und bezieht sich aus Fantasie und der Erinnerung an seine frühere Heimat. Der Sternenhimmel ist stilistisch dem Post-Impressionismus zugeordnet, da es die subjektive und emotionale Empfindung des Malers ausdrückt. Die expressiven Formen, mit denen er diesen Eindruck wiedergibt, entspringen sicher van Goghs Gemütszustand, sie weisen jedoch auch auf die gleichnamige und nun folgende Epoche des Expressionismus hin. Soll ich fortfahren?"

Schockiert liegen alle Blicke auf mir. Ich sehe die Lehrer an, die ziemlich überrascht wirken. „Nein, schon gut...", sagt unsere Führerin nach einer kurzen Stille. „Dann folgt mir bitte." Langsam gehen wir weiter, und ich spüre, wie sich der Druck in meiner Brust etwas löst. Zum Glück hat sie „Nein" gesagt, denn mehr wusste ich wirklich nicht mehr.

„Woher wusstest du das alles?", fragt Mia mich leise, als wir uns wieder ein Stück entfernt haben.

„Ich interessiere mich halt für Kunst", sage ich, während ich den Blick auf den Boden richte, damit niemand merkt, wie nervös ich mich gerade fühle. „Zu meinem Glück hatte ich neulich noch ein Referat über genau dieses Bild halten müssen. Ich wusste bis dahin alles, aber ab da wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich hatte nur gehofft, dass sie mich nicht weiter reden lässt, sonst wäre es ziemlich knifflig geworden."

Mia lacht leise. „Du bist genial." Ich sehe sie an, doch schüttle dann den Kopf. „Nein, hatte nur viel Glück gerade."

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Der Rundgang im Museum endet schließlich, und wir verlassen den Saal, als unser Lehrer plötzlich wieder ein paar Mal in die Hände klatscht, um die Aufmerksamkeit aller zu bekommen. „So Leute, bitte alle still", sagt er und wartet, bis sich die Geräusche um uns herum gelegt haben. „Morgen haben wir für euch eine Kanutour geplant. Das heißt, ihr solltet euch nicht zu warm anziehen, eine Kopfbedeckung wäre gut, ist aber kein Muss. Bitte denkt daran, dass ihr euch eincremt und vielleicht eine Badehose oder einen Badeanzug anzieht - ist aber auch kein Muss, nur eine Empfehlung unter der Kleidung. Die Wertsachen könnt ihr morgen in einen Eimer werfen, der sich verschließen lässt und wasserfest ist. Die stehen dann bei euch im Boot. Ganz wichtig: Denkt daran, genug zu trinken einzupacken. Die Boote werden sich zu dritt teilen. Die Einteilung macht ihr selber, immerhin seid ihr ja alt genug. Jetzt habt ihr bis zum Abendessen Freizeit."

Sobald die Lehrer den Raum verlassen haben, bricht das Chaos aus. Ein paar Schüler rufen, dass sie „saufen gehen wollen", andere Mädchen sprechen davon, shoppen zu gehen, und wiederum andere wollen in die Stadt. Und ich? Ich will auch in die Stadt.

„Mia, lass uns in die Stadt gehen", sage ich, als ich die Aufregung bemerke.

„Ja, gute Idee", antwortet sie sofort. „Ich war schon lange nicht mehr shoppen, und ich denke, mein Konto müsste mal etwas geleert werden." Sie klatscht fröhlich in die Hände, als hätte sie gerade eine Eingebung.

Ich hätte auch nichts dagegen, ein bisschen durch die Stadt zu bummeln. Sie hat sich heute im Museum so gelangweilt, also können wir auch etwas machen, was ihr Spaß macht. Außerdem brauche ich sowieso ein paar neue Klamotten.

Ich bin schnell fertig, ziehe eine weiße, kurze Hose an, dazu ein gestreiftes Top, schwarze Sneaker und einen langen Cardigan, um mich vor der frischen Luft zu schützen. Meine Haare mache ich zu einem Dutt, weil sie mir sonst beim Shoppen nur im Weg wären. Die kleine braune Tasche nehme ich auch mit - darin befinden sich mein Portemonnaie und mein Handy. Ich bin bereit.

Als wir den Raum verlassen und zum Ausgang gehen, stehen dort Brayen und Ivan. Sie sind mit ein paar anderen Jungs unterwegs und sehen uns an, als wir auf sie zugehen.

„Hey Jungs", rufe ich und winke ihnen zu. „Und? Was habt ihr so geplant?"

Sie drehen sich zu uns um. Ivan sieht mich an, aber sein Blick bleibt sofort an Mia hängen. Ach, großartig, denke ich, Liebe liegt in der Luft.

„Bis jetzt noch nichts", antwortet Ivan mit einem leichten Grinsen. „Und ihr so?"

„Wir wollten in die Stadt shoppen", sage ich und versuche, meinen Ton möglichst neutral zu halten.

Ich merke jedoch sofort, dass sich etwas in der Atmosphäre verändert. Ich hatte gehofft, einen ruhigen Tag mit Mia zu verbringen - ganz ohne Jungs. Doch als Ivan sein charmantes Lächeln aufsetzt, bin ich mir sicher, dass Mia auch die Einladung nicht ablehnen wird. Und dann sagt sie auch noch, mit einem freudigen Blick: „Klar, warum nicht?"

Ich schaue sie entgeistert an. „Mia, du hast doch gesagt, du wolltest nur mit mir unterwegs sein", sage ich leise.

„Ist doch okay, Callie, oder?" Alle Blicke richten sich nun auf mich, und Mia sieht mich mit einem bettelnden Blick an.

Verdammt! Was soll ich tun? Es wäre seltsam, nein zu sagen, also nicke ich schließlich. „Na klar, warum nicht? Dann kommt, wir verpassen sonst noch die Bahn."

Wir gehen zusammen los, und während wir gehen, formt Mia mit ihren Lippen ein „Danke".

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