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"Jake? Was ist denn los? Du wirkst die ganze Zeit so abwesend", bemerkte Hannah besorgt, während ich wieder auf meiner Tastatur herumtippte. Hannah war heute zu mir gekommen, da sie mal wieder etwa mit mir unternehmen wollte, während ich momentan eigentlich am liebsten alleine gewesen wäre. 

Doch so wie immer konnte ich meiner Schwester keinen Wunsch abschlagen und sie nicht unglücklich sehen, weshalb ich sie in mein Haus eingeladen hatte. Tatsächlich war ich mal wieder völlig abgelenkt gewesen und das nicht ohne Grund. Meine Gedanken schweiften ständig zu gestern Abend ab. 

Nachdem ich Julia in die abgesperrte Damentoilette gefolgt war, hatte ich ja mit ihr reden wollen, woran ich letzten Endes völlig gescheitert war. Ich hatte es einfach nicht über mich gebracht, die entscheidenden Worte auszusprechen. Julias Reaktion, als sie mich gesehen hatte, wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Sie hatte mich nicht sehen wollen. Ich konnte es an ihrem Blick erkennen, mit dem sie mich angesehen hatte. 

So schmerzverzerrt und traurig, enttäuscht und entsetzt, schuldbewusst. Solche Reaktionen hatte ich nie in Julia hervorbringen wollen. Es wäre besser, wenn ich mich von ihr fernhalten würde. Für sie und für mich. Auch wenn wir an dem Abend noch miteinander geschlafen hatten, änderte es nichts daran, dass wir uns ständig nur gegenseitig weh taten. 

Ich liebte sie, ja, aber was brachte das, wenn ich mir nicht sicher sein konnte, dass sie immer noch dasselbe für mich empfand? Lohnte es sich noch zu kämpfen, wenn einen die Liebe mehr verletzte als dass sie einem gut tat, einen glücklich machte? In Kombination mit der Ungewissheit leider nicht. Wenn sie mich noch lieben würde, hätte sie es mir gesagt, es hätte keinen Grund gegeben, weshalb sie es mir nicht sagen sollte. Aber das hatte sie nicht. 

Und ich konnte mich ihr auch nicht aufzwingen, obwohl ich es gerne tun würde, damit sie endlich Begriff, dass ich sie niemals gehen lassen möchte. Doch das wäre zu egoistisch. Ich musste Julias Entschluss respektieren, weil ich auch sie respektierte. Obgleich ich eigentlich nicht aufgeben wollte. Nicht Julia. 

Auch die Informationen, welche mir Emma noch übergeben hatte, waren alles andere als leicht zu verarbeiten. Julias Mutter hatte sich selbst umgebracht. Es war nachgewiesen worden, dass es Selbstmord durch eine Überdosis an Beruhigungsmittel war. Die medizinischen Befunde und die Beweislage der Polizei hatte mir Emma schriftlich mitgegeben, sodass ich, nachdem ich die ganzen Unterlagen durchgegangen war, die ganze Nacht nur noch ausdruckslos vor mich hinstarren konnte. 

Ein Wunder, dass Julia dann psychisch komplett am Ende war. Noch ein Grund von tausenden mehr, weshalb ich jetzt bei ihr sein wollte. Aber es ging einfach nicht. Nun hatte ich gedacht, dass ich mich soweit gefasst hätte, dass ich wieder mal arbeiten könnte, doch Hannah hatte recht: Ich war abwesend, gar nicht richtig in dieser Welt, sondern in dem Wirrwarr meiner Gedanken gefangen. 

"Wie wäre es, wenn wir heute mal etwas zusammen unternehmen? Ins Kino gehen oder so", schlug Hannah vor, und da ich Hannah nicht verletzen wollte, stimmte ich gleichgültig zu. Vielleicht war es ja gar keine so schlechte Idee, ins Kino zu gehen. Immerhin könnte ich mich so ablenken. 

Keine halbe Stunde später standen wir also an der Kasse des Kinos und diskutierten, welchen Film wir ansehen würden. Während Hannah unbedingt eine Liebesromanze ansehen wollte, war es mir ziemlich egal, solange es eben kein Liebesfilm wäre. An sich hatte ich es immer schön gefunden, Liebesfilme mit Julia anzuschauen, doch nun erinnerte es mich zu sehr an sie. Und das war das Letzte, dass ich gerade wollte. 

"Ach komm schon, Jake. Immer wenn ich Liebeskummer habe, gucke ich mir solche Filme an. Und es geht mir danach auch immer schon viel besser", versuchte Hannah mich zu überzeugen. Schließlich gab ich doch nach, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass es einem bei Liebeskummer hilft, Liebesfilme anzusehen, bei denen die Hauptdarsteller letzten Endes trotz der ganzen Hürden, die sie überwinden mussten, wieder zusammenkamen und teilweise sogar heirateten. 

𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚃𝚑𝚎 𝙶𝚊𝚖𝚎 𝙲𝚘𝚗𝚝𝚒𝚗𝚞𝚎𝚜Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt