𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚃𝚑𝚎 𝙶𝚊𝚖𝚎 𝙲𝚘𝚗𝚝𝚒𝚗𝚞𝚎𝚜

~69~

Ich wusste nicht, wie lange ich das noch aushalten sollte. Schon seit gefühlten Stunden hing ich hier und musste die Messerstiche wehrlos über mich ergehen lassen. Beziehungsweise hatte ich mich am Anfang gewehrt, sehr sogar, doch mittlerweile konnte ich einfach nicht mehr. Mein linkes Bein war komplett taub vor Schmerz, meine Arme brannten an den Stellen, die von meinem Halbbruder misshandelt worden waren. 

In Wirklichkeit hatte die Prozedur aber wahrscheinlich nur wenige Minuten gedauert, weil ich sonst schon längst verblutet wäre. Kraftlos ließ ich meinen Kopf hängen und schrie wieder auf, als ich spürte, wie die Spitze des Messers meine empfindliche Haut durchbohrte und in mein Fleisch schnitt. Tränen brannten in meinen Augen und sorgten dafür, dass meine Sicht verschwamm. 

Aber ich konnte nicht nachgeben. Ich wollte nicht für den Tod eines Menschen verantwortlich sein. Lieber litt ich selbst anstatt für das Leid eines anderen zuständig zu sein. Außerdem würde Nick dann genau sein Ziel erreichen. Er wollte, dass ich nachgab. Und diese Genugtuung würde ich ihm nicht verschaffen. 

Als ob er meine Gedanken lesen könnte, legte er das Messer weg und grinste mich an. "Hast du's dir anders überlegt?", flüsterte er mir in Ohr, sein Atem hinterließ eine unangenehme Feuchtigkeit. "Nein", flüsterte ich zurück und trat ihm zwischen die Beine. Zufrieden sah ich zu, wie sich mein Halbbruder kurz vor Schmerz krümmte, bevor er das Wort ergriff. 

"Oh verdammt Julia, ich war echt lange mit dir geduldig, aber das reicht mir jetzt." Mit diesen Worten presste er brutal seine Lippen auf meine und verschaffte sich mit seiner Zunge gewaltsam Einlass zu meinem Mund. Ich überlegte nicht lange, sondern biss sofort fest auf seine Zunge, sodass ich Blut schmeckte. 

Ruckartig löste sich Nick von mir und wischte sich das Blut von der Lippe, während ich das Blut direkt vor seine Füße spuckte. Wütend starrte er mich an, bevor er mit seiner Hand ausholte und meine Wange so heftig traf, dass mein Kopf zur Seite flog und sich mein Sichtfeld enorm verdunkelte. Nur mit größter Mühe gelang es mir, beim Bewusstsein zu bleiben, was ich im Nachhinein bereute. 

Als mein Halbbruder zwei Finger in die Schnittwunde an meinem Bein hineinsteckte, breitete sich der brennende Schmerz in meinem ganzen Körper aus. Es fühlte sich so an, als ob ich verbrennen würde, das Blut quoll aufs Neue aus der Wunde. Unzählige Tränen liefen über meine Wangen, während ich in meinen Ohren nur noch das Blut rauschen hörte. Nicht einmal mehr meine eigenen Schreie nahm ich wahr. 

Nick zog seine Finger ruckartig heraus, sodass ich so laut aufschrie, dass sogar ich die schrillen Schmerzenslaute, die ich von mir gab, hören konnte. Gerade zückte mein Bruder wieder sein Messer und setzte es an meinem Arm an, als plötzlich jemand im Raum erschien und das Messer durch den halben Raum schleuderte. 

Mit vor Panik geweiteten Augen sah ich zu, wie ein komplett schwarzbekleideter Mann meinem Halbbruder zwei Schläge in die Magengrube versetzte, weshalb sich Nick am Boden vor Schmerz krümmte. Das Ganze geschah so schnell, dass ich gar nicht genau verstand, was hier eigentlich passierte, und alles unwirklich wirkte. Erst das Klimpern eines Schlüsselbundes holte mich in die Realität zurück und veranlasste mich dazu, meinen Blick zu heben. 

Jake war allerdings so konzentriert, dass er es gar nicht bemerkte. Gebannt betrachtete ich sein konzentriertes Gesicht und bemerkte, dass sich die Handschellen an meinen Handgelenken lösten. Als meine Füße den Boden berührten, knickten meine Beine sofort ein und ich wäre wahrscheinlich hingefallen, wenn Jake mich nicht in letzter Sekunde aufgefangen hätte. Jake. Er war hier. 

Ungläubig starrte ich Jake an, bis ich endlich verstand, dass ich nicht träumte, und ihm schluchzend um den Hals fiel. "Du bist da", murmelte ich immer und immer wieder an Jakes Brust und bemerkte, wie mir Freudentränen die Wangen hinunterflossen. Jake erwiderte meine Umarmung vorsichtig und streichelte mir beruhigend über meine Haare.