Der Sonntag war anstrengend. Nachdem wir die Nachricht von Jessys Tod erhalten hatten, hatten wir diese sofort an den Rest der Truppe weitergeleitet. Auch wenn es besser gewesen wäre, ihnen die Nachricht persönlich und nicht über den Messenger zu überbringen, hätten wir um zwei Uhr nachts unmöglich vor der Haustür jedes Einzelnen aufkreuzen können. Aber genauso wenig hätten wir sie bis morgen warten lassen können.
Deshalb hatten wir auch beschlossen, uns heute Abend in der Aurora zu treffen, um gemeinsam um Jessy zu trauern. Die Anderen waren wirklich sehr bestürzt gewesen, was wir ihren Anrufen und Nachrichten entnehmen konnten. Und wenn wir ihnen erst persönlich gegenüberstehen würden, wäre es viel schwieriger, mit den Schuldgefühlen umzugehen.
Laut dem empathielosen Arzt hatte Jessy schon viel zu viel Blut verloren, weshalb auch die Bluttransfusion, welche sie bekommen hatte, sie nicht vom Verbluten bewahren konnte. Die ganzen Schnittwunden und ihre inneren Blutungen hatten sie langsam, aber sicher sterben lassen. Selbst wenn wir sie schon eher gefunden hätten, hätten die Ärzte Jessy unmöglich retten können.
Es war gar nicht geplant gewesen, mich das Spiel gewinnen zu lassen. Stattdessen hatte der Mann ohne Gesicht uns nur in dem Glauben gelassen, irgendetwas tun zu können, und uns nun gezeigt, dass wir völlig machtlos waren. Dass das Spiel nach seinen Regeln lief und schon jeder Spielzug festgelegt war. Er hätte Jessy schon vor Ort endgültig umbringen können, aber das wollte er nicht. Er hatte mit uns spielen, uns Hoffnungen machen wollen. Nur, um sie uns wieder im nächsten Augenblick zu nehmen.
Dan und Phil waren beide zutiefst geschockt und hatten ihrem Kummer freien Lauf gelassen, wodurch ich auch wusste, wie sehr die beiden unter Jessys Verlust litten. Phil hatte - wenn er es mal geschafft hatte, einzuschlafen - ständig im Schlaf geschrien, weshalb ich ihn mehrfach aufwecken und beruhigen musste. Dan erging es vermutlich auch nicht anders.
Und ich... ich fühlte einfach gar nichts. Nur diese Leere, nichts weiter. Anfangs waren da wenigstens noch die Schuldgefühle und die Wut in mir gewesen, doch irgendwann waren auch diese verebbt, waren von dieser schrecklichen Leere verdrängt worden. Aber jetzt konnte ich nicht einmal mehr sowas wie Trauer empfinden. War nicht in der Lage, um Jessy zu trauern, sondern nahm es einfach so hin. Ich konnte es eh nicht mehr ändern.
Genau aus diesem Grund saß ich auch auf dem Boden im Badezimmer und hielt eine Rasierklinge in der Hand. Eigentlich wollte ich mich gar nicht selbst verletzen, aber das Bedürfnis, wenigstens irgendetwas zu spüren, war größer. Ich wollte nicht so herzlos, so leer sein. Wollte um Jessy trauern, mich meinen Schuldgefühlen stellen und nicht nichts fühlen und völlig teilnahmslos dem Geschehen um mich herum zusehen.
Ich sollte genau wie die anderen leiden, den selben Schmerz fühlen wie sie. Es war schon eine ganze Weile her, seit ich mich das letzte Mal selbst verletzt hatte, und ich wollte es wirklich nicht tun, aber ich sah einfach keinen anderen Ausweg. Mein Blick fiel auf meine beiden vorherigen Narben auf meinem ohnehin schon vernarbten Arm.
Sie fielen dadurch auf, dass sie im Gegensatz zu den Narben vom letzten Jahr noch rosa und nicht vollständig verheilt waren, aber auch diese würde man innerhalb eines Monats kaum noch von den anderen unterscheiden können. Dennoch zögerte ich, kämpfte gegen Drang an, obwohl ich wusste, dass es eh nichts bringen würde. Am Ende würde ich es trotzdem tun.
Leise Schluchzer verließen meine Kehle, ich kam mir so verdammt hilflos vor. "Julia, alles in Ordnung bei dir?", fragte Phil von draußen, weshalb ich erschrocken zusammenzuckte und mich beinahe geschnitten hätte. "J-Ja", schluchzte ich leise und hoffte, dass er mich jetzt einfach in Ruhe lassen würde.
"Weinst du etwa?", stellte er bestürzt fest und öffnete die Tür. Der Anblick, der sich Phil bot, - ich mit einem hochgekrempelten Ärmel und einer Rasierklinge zum Schnitt bereit an diesem angesetzt am Boden sitzen mit tränenüberströmtem Gesicht - musste wohl Bände sprechen, denn Phil sah mich schockiert an und bewegte sich langsam in meine Richtung.
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𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚃𝚑𝚎 𝙶𝚊𝚖𝚎 𝙲𝚘𝚗𝚝𝚒𝚗𝚞𝚎𝚜
Fanfiction𝐅𝐨𝐫𝐭𝐬𝐞𝐭𝐳𝐮𝐧𝐠 von 𝙳𝚞𝚜𝚔𝚠𝚘𝚘𝚍 ~ 𝚈𝚘𝚞 𝙰𝚛𝚎 𝚃𝚑𝚎 𝙺𝚎𝚢 Endlich war der ganze Horror vorbei: Michael Hanson war tot, Jake wurde nicht mehr von der Polizei verfolgt und Julia war auf dem besten Weg, ihren Schulabschluss zu bestehen...