| Chapter Ninety-Eight |

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Leer.
Alles fühlte sich so leer an.
Es war, als wäre ich fern gesteuert.
Ich setzte einen Fuß vor den anderen.
Immer weiter trugen mich meine Beine, ich hielt nicht an.
Ich wusste auch gar nicht wie, immerhin war nicht ich es, der lief.

Kalt.
Alles war so kalt.
Ich zitterte, doch ich fror gar nicht.
Tatsächlich war es ein recht warmer Frühlingstag.
Die Kälte kam wohl aus meinem Inneren und keine Sonne in der Galaxie hätte diese vertreiben können.

Nichts.
Da war einfach nur ein leeres, kaltes Nichts.
In mir, um mich herum.
Nichts.

Mit tauben Fingern nahm ich mein Handy in die Hand und wählte die Nummer.
Ich wusste, dass sie die einzige war, die mich jetzt noch retten konnte.

„Quinny?".
Als ich ihre sanfte Stimme hörte, hätte ich am liebsten aufgeschluchzt. Meine Beine gaben beinah nach und zitternd ließ ich mich auf die nächste Bank sinken.
Allein meinen Namen von ihr zu hören, hatte mich mehr fühlen lassen, als die letzten Wochen zusammen.

Kurz sah ich die schönen Farben um mich herum, kurz spürte ich die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut, kurz schlug mein Herz wieder.
„Nana...", flüsterte ich. „Hast du kurz Zeit?".
Ich war stolz auf mich, dass man mir meine Gefühlswelt nicht anhörte.

„Nicht wirklich, ich geh mit Papa gleich einkaufen. Ist alles okay?", antwortete meine kleine Halbschwester und ich klammerte mich an das Handy, wie ein Ertrinkender.
„Ja, natürlich ist alles okay. Ich wollte nur mal wieder deine Stimme hören. Das ist alles", meinte ich in den Hörer und konnte meine wild umher fliegenden Gedanken kaum verstehen.

So gerne würde ich ihr alles erzählen.
So gerne würde ich ihr sagen, dass ich am Ende war.
Ich würde ihr gerne von Marek erzählen.
Ihr erzählen, dass nun die ganze Schule wusste, dass ich schwul war und ich nie wieder dorthin zurück konnte, oder mein Leben lang gemobbt werden würde.
Ihr sagen, dass ich all meine Freunde verloren hatte. Ausnahmslos alle.
Von Karina erzählen.

Doch ich konnte es nicht.
Mein Leben lang hatte ich all das von ihr abgehalten und ich würde einen Teufel tun und das nun ändern.

„Ich vermisse dich", flüsterte ich und spürte, dass eine kalte Träne meine Wange hinunter rollte. Ich wischte sie nicht weg. Ich wollte es fühlen.
Endlich.
Endlich wieder etwas fühlen.

„Ich vermisse dich doch auch, Quinny. Ich muss jetzt wirklich los. Lass uns mal wann anders telefonieren, okay?", hörte ich sie und es klang, als würde sie sich schon anziehen.
Mein Herz schlug vor Angst schneller.
Sie durfte nicht auflegen, nein!
Ich brauchte sie jetzt. Sie musste bei mir bleiben!

„Mach dir keine Sorgen, Nana. Bald hab ich die Schule fertig und dann können wir wieder hier irgendwo zusammen ziehen. Dann müssen wir uns nie wieder vermissen", erklärte ich ihr meine Zukunftswünsche und spürte, wie sich ein leichtes Lächeln auf meinen Lippen gebildet hatte, als ich daran dachte.

„Quinn....", hörte ich meine Schwester laut seufzen und meine Finger verkrampften sich um das alte Metall. „Bitte... Lass uns da ein anderes mal drüber reden".
Ihre Stimme klang genervt und ihre Worte brannten sich in meinen Kopf.
„Wie meinst du das? Das... Das ist doch das, was wir wollten?", meinte ich und spürte, wie die Kälte und die Leere erneut nach mir griffen.

„Nein. Das ist das, was du willst. Ich liebe dich, Quinny. Wirklich! Du bist mir unglaublich wichtig, aber genauso liebe ich es hier. Hier mit Dad und meinen Freund. Ich habe hier mein Zuhause gefunden. Du bist mein Bruder und wirst immer zu mir gehören, aber bitte hör auf dich in das ganze Zusammenziehen und so weiter hinein zu steigern. Tut mir leid, dass ich es erst jetzt sage, aber ich denke, dass es Zeit wird, dass wir beide erwachsen werden. Denk endlich an dich! Das hast du verdient! Ich muss jetzt wirklich los, Dad ruft nach mir. Sei nicht sauer, okay? Hab dich lieb, Bruderherz!".

Das Freizeichen ertönte und ich bewegte mich einige Minuten einfach nicht.
Dann ließ ich das Handy einfach aus meinen Fingern fallen.
Es fiel zu Boden, machte ein lautes Geräusch und zerbrach dann.

All das registrierte ich nur am Rand.
Es war egal.
Das alles war egal.
Mein ganzes Leben war gerade zerbrochen, was interessierte mich da ein altes Handy.

Das wars.
Es war vorbei.
Nicht mal meine Schwester wollte noch bei mir sein...
Ich hatte... Absolut alles verloren.
Ich war alleine.

Wieso weinte ich nicht?
Wieso tat es nicht weh?
Wieso hörte mein Herz nicht auf zu schlagen?
Wieso fühlte ich einfach nur...
Nichts?

Mein Plan gewann an Form und verfestigte sich.
Der Plan war alles, was ich nun noch hatte.
Alles, was mich weiter laufen ließ.

Meine Beine trugen mich, wie vor dem Telefonat, automatisch einfach weiter.
Ich wusste nicht wo ich war, es war auch egal.

Erst, als ich bemerkte, wie ich einen Schlüssel in ein Schloss steckte, wachte ich aus der Trance auf.
Erschrocken zuckte ich zurück, als ich den Notenschlüssel in meiner Hand sah und spürte, wie das Metall an meiner Haut zu glühen begann.

Wie war ich nur hier her gekommen?!
Was zum Teufel wollte ich hier?

Als wäre das alles selbstverständlich öffnete ich die Türe und betrat Mareks Wohnung.
Ein kurzes Gefühl von Glück und Heimat durchströmte mich.
Für einen ganz kleinen Augenblick zweifelte ich an meinem Plan.
Einen Moment lang war ich wieder ich.

„Oh, Hallo?".
Eine helle Stimme ließ mich herum schrecken.
Ich schluckte schwer und sah dann in ein hübsches Gesicht mit blauen Augen und lockigen, blonden Haaren.

„Wer bist du und was machst du hier? Wie bist du rein gekommen?", fragte mich das hübsche Mädchen und ich spürte, wie meine Finger zitterten. „Ich habe einen Schlüssel. Wie bist du rein gekommen?", erkundigte ich mich tonlos, konnte nicht verstehen, was hier passierte.

Das Mädchen trug nur ein kurzes Oberteil und eine kurze Hose.
In meinem Kopf klingelte es.
„Ich habe bei Marinek geschlafen. Bist du ein Freund von ihm?".

Ihre Worte schnitten durch mein Herz und ließen es verbluten.
Bei oder mit...?

Hatte er mich so einfach vergessen können?
Wie hatte ich so blöd sein können!
Natürlich hatte ich ihm nicht so viel bedeutet, wie er mir.
Ich...

Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Ich wollte nichts weiter hören.
Ich wollte einfach nur weg.
„Kann ich dir helfen?", meinte sie nun, da sie wohl bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte.

Wie wild schüttelte ich meinen Kopf, verbannte alle weiteren Gedanken. Es war egal. Es spielte keine Rolle mehr.
In einer Stunde war das alles eh unbedeutend.

„Gib ihm das", murmelte ich nur, nahm die Musiknote zwischen die Finger und drückte zu.
Mit einem leisen Knacken brach sie auseinander und ich drückte ihr die nun zwei Einzelteile in die Hände.

Ohne noch etwas zu sagen drehte ich mich um und verließ das Haus, was für eine kurze Zeit mein Zuhause gewesen war.

Fragile - Falling like the stars || boyxboyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt