Alex
Alex hatte irgendwie das Gefühl, dass es Zeit wäre, sich zurückzumelden. Er hatte doch sicher lang genug geschlafen.
Eine ihm bekannte Stimme drang an sein Ohr, eine Stimme, die zu ihm und seinem Engelchen gehörte. Die Stimme hatte irgendetwas mit Lastwagen zu tun.
Aber woher wusste er das?Wenn er eine Antwort haben wollte, musste er aufwachen und nachsehen.
Er öffnete die Augen, sah fremde Gesichter, die ihn freudig anstrahlten, sah Hände, die Beifall klatschten – und er sah in Chris' blaue Augen.
„Hallo, Chris!" sagte er, hörte aber seine Stimme nicht. Deshalb legte er seine Hand auf den Arm des Truckers, drückte ein wenig zu und formte das Wort, das als einziges wichtig für ihn war: „Lena?"Da kippte Chris um wie ein nasser Sack. Jetzt im Augenblick war alles zu viel für ihn.
Das Personal, das eben noch gejubelt hatte, weil der Patient aufgewacht war, hatte wieder alle Hände voll zu tun. Sie betteten den neuen Patienten auf eine Notliege, klatschten in sein Gesicht, legten eine Infusion, untersuchten sein Blut, machten ein EKG und ein EEG.
Mühsam öffnete der Trucker seine Augen, sah sich um.
Er wollte aufspringen. „Nein, nein, nein! Mich kriegt ihr nicht!" versuchte er zu scherzen. Doch ihm wurde so schwindlig, dass er sich freiwillig wieder nieder legte.
Alex wurde ungeduldig, fasste eine der Schwestern am Ärmel ihres Kittels. „Lena?" formten seine Lippen wieder. „Bitte! Lena?"„Er fragt nach einer Lena!" gab die Schwester, die in Deutschland gelernt hatte, an Chris weiter.
Der zückte sein Handy.
„Hier bitte nicht! Wählen Sie die Nummer, ich spreche dann draußen mit ihr!" bot sie an, so dass auch Alex hörte, dass sie sich um Kontakt zu seiner Lena bemühte.
Erleichtert ließ der sich in die Kissen zurückfallen.Lena
Lena nahm im Münchner Park das Gespräch entgegen.
„Hallo, Chris! Schön, was von dir zu hören!"
Doch eine fremde Frauenstimme war am anderen Telefon.
„Hier ist Schwester Agathe, Krankenhaus Zagreb!"Eine kalte Hand griff nach Lenas Herz.
„Ist Chris etwas passiert?" rief sie aufgeregt.
„Ich rufe nicht wegen ihm an. Wir haben seit Wochen einen Patienten, der nach einem schweren Unfall im Koma lag. Und der junge Mann, dem dieses Handy gehört, hat ihn eben als Dr. Alexander Borchert identifiziert.
Dieser Herr Borchert will unbedingt mit Lena sprechen, das ist alles, was ihn interessiert! Aber seine Stimme ist noch nicht wieder da, von der Intubation und wegen der langen Zeit im Koma!"Lena war aufgesprungen. In ihrem Kopf wirbelten tausend Gedanken durcheinander.
Alex!
Hatte einen Unfall gehabt!
Hatte sie nicht verlassen!
Nicht vergessen!„Sagen Sie ihm bitte, dass ich so schnell wie möglich komme!" rief sie. „Und: Danke! Tausend Dank!"
Mehr konnte sie nicht mehr sagen, weil Sturzbäche an Tränen aus ihren Augen schossen.Sie fiel Daniel um den Hals. „Ich muss nach Zagreb! Er hatte einen Unfall! Er hat mich nicht verlassen! Ich muss zu ihm!"
Daniel wunderte sich zwar, dass sie sich so freute, dass ihr Ex einen Unfall gehabt hatte, aber er musste ja nicht alles verstehen.Er begleitete sie wie selbstverständlich zu ihrer Wohnung. Unterwegs redete sie ununterbrochen.
„Er ist weggefahren und nicht wieder gekommen! Ich habe gedacht, er hätte sich von mir getrennt! Aber er lag im Koma! Warum habe ich so gezweifelt? Warum habe ich nicht gesucht nach ihm? Warum habe ich ihm nicht vertraut? Er liegt da seit Wochen alleine in Slowenien, und ich bin einfach nach München gezogen! Mit seinem Kind! Chris, unser Freund, ein Trucker, hat ihn gefunden! Er hat nicht geglaubt, dass Alex sich von mir getrennt hat, aber ich war sicher! Bisher hat mich niemand wirklich haben wollen! Meine Mutter nicht, meine Großeltern nicht und auch mein Vater nicht! Und dann auch noch Sabine, Olivia und Bill! Ich hatte gedacht, das sind Freunde und Familie, aber sie haben uns total in Stich gelassen, als wir Sia nehmen mussten, weil Evi durchgeknallt ist!"
Daniel verstand kaum ein Wort von ihrem Redeschwall, nur dass der Mann, den sie liebte, nach ihr gerufen hatte, was sie glücklich machte.
Als sie kurz Pause machte, fragte er: „Und die Kleine? Willst du sie mitnehmen?"
Da hielt sie inne. An Sia hatte sie gar nicht gedacht!„O Gott! Das habe ich noch gar nicht überrissen!" gab sie zu.
Doch Daniel hatte eine Lösung parat. „Hör zu, Lena! Meine Mutter ist Kinderkrankenschwester, mein Vater Kinderarzt. Wir könnten Sia betreuen, bis du mit Alex wieder zurückkommst!"Lena fand im Moment keine Worte. „Das... das würdest du tun? Warum? Du kennst mich doch kaum!"
Er grinste. „Du hast dich immerhin von mir küssen lassen!" zog er sie auf, was ihm einen kräftigen Hieb auf seinen Arm einbrachte. „Nein, Quatsch! Aber du hast einen Trucker als Freund, der deinen Liebsten in Slowenien aufgespürt hast, du scheinst also als Freundin direkt Potential zu haben!"Sie kicherte. Er war schon eine Nummer! Sie hatte bisher gar nicht gemerkt, wie witzig er war!
„Aber du solltest erst einmal mit deinen Eltern sprechen!" schlug sie vor.
„Du solltest dich vielleicht erst einmal um einen Flug kümmern!" hielt er dagegen.Sie fand eine Verbindung am nächsten Tag um 15.00 Uhr, danach rief er seine Mutter an.
Er schilderte den Notfall, lauschte kurz, gab eine Frage an Lena weiter. „Wie alt ist Sia?"„Knapp drei Monate!" antwortete sie.
„Alles klar! Danke, Mum!" Mit diesen Worten verabschiedete er sich.
„Du sollst eine Grundausstattung an Nahrung und Windeln einpacken. Kleidung haben sie noch von meiner kleinen Schwester." Er erzählte das alles, als spräche er vom Wetter.Sie nahm ihn wieder in den Arm, wusste, sie hatte noch einen Freund gefunden.
Daniels Stimme war heiser, als er sich los machte und hervorstieß: „Ist schongut, Kleine!"Er hatte sich ordentlich verknallt in das schöneMädchen, hatte aber eingesehen, dass gegen die große Liebe eben kein Kraut gewachsen war. Er war sicher, dass sie nicht gespielt hatte mit ihm, dass er ihr wirklich etwas bedeutet hatte, als sie da im Park waren.
Oder, dass sie zumindest gewollt hatte, dass er ihr etwas bedeutete. Und das war doch eine ganze Menge, nicht wahr?
Aber zu viel an Nähe musste jetzt im Augenblick auch nicht sein! Er war immerhinein Mann! „Sorry!" sagte sie leise.„Passt schon!" antwortete er und räusperte sich. „Wir bringen jetzt Sia zu mir nach Hause, dann kannst du dich davon überzeugen, dass sie es gut haben wird. Danach lädst du mich auf eine Pizza ein, also du lädst mich ein und ich bezahle, dann betrinke ich mich ganz fürchterlich, und morgen bringe ich dich zum Flughafen. Ist das ein Plan?"
Seine Mutter begrüßte Lena herzlich, herzte Sia ab, bis sie gluckste. „Und bleiben Sie so lange, wie es nötig ist! Auch wenn es ein paar Wochen dauert! Wir kommen schon zurecht, nicht wahr, kleine Maus?"
Auch mit dem dritten Punkt auf seiner Liste machte Daniel ernst. Er schüttete den Rotwein in der Pizzeria in sich hinein, als gäbe es morgen nichts mehr zu trinken.
Er begleitete Lena torkelnd nach Hause, fiel auf ihr kleines Schlafsofa und fing sofort an zu schnarchen.Lena hatte ein deja vus, dachte an ihre kleine Studentenbude in Regensburg, an die Zeit, als Alex auf ihrem Sofa übernachtet hatte.
Alex! Er hatte als erstes nach ihr gefragt, hatte dieSchwester erzählt. Er hatte sie nie verlassen! All ihre Tränen waren umsonst geweint worden, weil sie kein Vertrauen in ihn und seine Liebe gehabt hatte!
Weil sie nicht nachgefragt hatte! Bei Slavko, bei Sabine, bei Olivia!Sie hätte gleich nach Kroatien fahren müssen, ihn suchen müssen!
Sie warf sich im Bett hin und her, fand keinen Schlaf.
Chris!Chris hatte ihn gefunden!
Chris hatte mehr an ihrer beider Liebe geglaubt als sie! Irgendwann siegte die Erschöpfung. Doch schlimme Albträume quälten sie.Sie sah Alex, wie er blutend in einem Autowrack lag und nach ihr rief.
Immer wieder ihren Namen rief!
Schweißgebadet wachte sie auf, merkte, dass das Kissen tränennass war.
Bald! dachte sie. Bald kann ich ihn um Verzeihung bitten! Endlich kam der Morgen, endlich war es Mittag.
Daniel hatte seinen kräftigen Schwips ausgeschlafen und konnte sie tatsächlich zum Flughafen bringen.
DU LIEST GERADE
Stark
RomanceStark musste Lena ihr ganzes Leben lang sein. Als ungewolltes Kind wuchs sie bei einer bigotten Mutter und ebensolchen Großeltern auf. Doch das hat sie ihren Lebensmut nicht verlieren lassen. Stark musste auch Alex sein, als sein Vater tödlich verun...