80 - Türme, Krankenzimmer

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Die Erinnerung schien hell auf, als sie in den Caz Kristall überging. Sie färbte den Stein blutrot, als würde es sich nur um Blut handeln, nicht um sehr viel mehr. In den feinen Händen der Hohen wirkte der Stein beinahe klobig, als sie ihn von den Lippen der Toten löste. Die alte Hüterin, der Maya die Schlüssel zum großen Gedächtnis gestohlen hatte, lag im Sterben. Rya, Maya und Mayas Mutter waren begleitet von anderen Ordensdamen heraufgestiegen in das kleine Zimmer der alten Frau und wohnten der Zeremonie bei. Zwar schien noch Licht in den Augen der Alten, aber es verblasste immer mehr, während um sie her der sanfte Gesang der hohen Damen wogte. Ihre Lippen öffneten sich und schlossen sich wieder, während die Hohe den Stein mit den Erinnerungen auf ein Tablett legte. Eine der Novizinnen hielt es und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Kristall. Das Tablett zitterte so sehr, dass Maya die Hand ausstreckte und ihren Arm festhielt. Das Mädchen erinnerte sie an sich selbst, als sie ihrer ersten Übergabe beigewohnt hatte. Es war ihr brutaler vorgekommen, als eine Operation am offenen Herzen. Das wertvollste, was der Mensch sammelte während seines Lebens, reduziert auf ein paar rote Schlieren in einem Kristall. Die Novizin, die das Tablet hielt, sah immer wieder zwischen der Sterbenden, der Hohen und Maya hin und her. Maya hielt immer noch ihren Oberarm. Sie war jedes Mal wieder tief bewegt von der Zeremonie, doch sie hatte gelernt, professionell damit umzugehen, Menschen sterben zu sehen. Denn sie starben nicht vollkommen. Nicht, wenn Rya gerufen wurde und man die Erinnerung aus dem Körper rettete. Die Hüterin war alt, sie hatte lange und gut gelebt. Es war keine Tragödie, dass sie nun gehen durfte. Trotzdem standen Tränen in den Augen der Novizin, während die Hohe sich vorbeugte und eine ihrer ältesten Ordensschwestern auf die Stirn küsste.

„Die Sterne wachen über dich", sagte sie auf Latein.

Maya fand, dass man den letzten Atemzug immer von allen davor unterscheiden konnte. Rasselnd und unaufhaltsam kündigte er sich an, bevor er mit einer erschreckenden Leichtigkeit zu Ende ging. Stille hinterließ. Sie schloss die Augen, als er kam. Doch dem beklemmenden Gefühl entkam sie genauso wenig, wie die unerfahrene Novizin neben ihr.

„Maya, ich habe einiges zu erledigen heute", sagte die Hohe, als sie einige Minuten später den Raum verließen. Rya wusch sich die Hände in einer Schüssel, die ihr hingehalten wurde. Wie eine Ärztin nach dem Patientenbesuch.

„Arbeite mit den Novizen, so lange ich fort bin."

Die Hohe wirkte ebenfalls bekümmert. Ein so altes, treues Mitglied ihrer Gemeinschaft gehen zu sehen, ließ auch sie nicht kalt. Mayas Mutter trat zwischen sie und strich ihrer Tochter über den Rücken. Sie sahen zu, wie die Erinnerung auf dem kleinen Silbertablett davongetragen wurde, nach wie vor blutrot eingefärbt. Sie würde erst in einigen Wochen aufklaren und den Stein wieder mehr wie Glas aussehen lassen. Während eine regelrechte Prozession aus Freunden und Kolleginnen mit der Erinnerung in Richtung großes Gedächtnis davon ging, blieben Maya und die Hohe zurück. Mit ihnen die Drillinge, die die Hohe beschützten. Stumm und kalt standen sie hinter Rya, wie Marmorsäulen. Aus der Richtung, in die die anderen Ordensdamen verschwanden, kam ein Junge in blauer Uniform angelaufen. Er wich den trauernden Damen aus und wurde von einer der Wachen gestoppt, bevor er überhaupt in die Nähe der Hohen kommen konnte. Der Wachposten nahm ihm einen Brief ab und schickte ihn fort. Der Junge sah mit großen Augen den Trauernden hinterher und dann wieder zur Hohen hin, als wären sie alle Gespenster oder Hexen. Es musste ein wenig so wirken. Der Wachposten reichte den Umschlag, den der Junge mit sich gebracht hatte, an Maya weiter. Rya nickte ihr zu und sie öffnete den von außen unbeschrifteten Brief. Als sie die Handschrift erkannte, hätte sie das Papier beinahe fallen gelassen. Leicht geneigt, schwungvoll und spitz lachten ihr die Buchstaben entgegen. Die Sätze, die sie bildeten, waren ein weiterer Schlag in die Magengrube. Maya verzog keine Miene und reichte den Brief an Rya weiter.

„Julian Alessandrini erbittet eine Audienz."

Das Gesicht der Hohen zeigte keine Reaktion. Erst, als sie den Boten entlassen hatte, ließ sie ihre Skepsis sichtbar werden.

„Was denkt Ihr will der Prinz?"

Rya faltete die Hände hinter dem Rücken und folgte der Prozession zum großen Gedächtnis hinunter. Die Novizinnen, die vor ihnen liefen, drehten sich immer wieder unruhig zu ihnen um. Sie hatten alle damit gerechnet, dass die Hohe weiter vorne mitlaufen würde, nicht dass sie sie beobachten würde. Die Hohe, die Drillinge, Maya. So viel Macht gebündelt zu sehen, musste aufregend sein für die jungen Anwärter.

„Nun", sagte Rya. „Es sieht so aus, als wäre eine Hochzeit überfällig."

Maya beobachtete Rya. Sie hatte sich Sorgen gemacht, dass die Hohe ihre Reaktion auf den Brief bemerkt hatte, doch dem schien nicht so zu sein. Stattdessen loderte ein Feuer in den Augen der erwachsenen Frau, das auch die Flamme selbst hätte sein können. Erst die Machtdemonstration und jetzt dieser Gesichtsausdruck. Rya war kein Mensch, der emotional handelte. Doch über die letzten Monate, vielleicht Jahre, hatte sich etwas verändert daran, wie die Hohe sich dem Adel gegenüber verhielt. Adel und Orden waren aggressiver geworden. Maya schluckte. Julian Alessandrini war klug und brutal, aber jung. Wenn er es geschafft hatte, Maya zu bestechen, was hatte dann die Hohe getan, um sich Einfluss im blauen Adel zu erkaufen?

Skythief - Gefallene Sterne [2024 Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt