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Ich blieb stumm sitzen und starrte auf meine weiße Wand mit dem Schokopuddingfleck, den ich vor ein paar Wochen verkleckert habe. Worte brachte ich ohnehin nicht raus. Ich konnte es einfach nicht glauben, was Jenny mir eben mitgeteilt hat.
Die Zeit verstrich und verstrich. Ich betrachtete noch immer meine Wand und Jennys Blick haftete die ganze Zeit auf mir. Manchmal musste sie schwer schlucken. Von mir konnte man nur einen ruhigen , vielleicht auch einen etwas ängstlichen, Atem wahrnehmen. Wir beide wussten nicht so Recht, was wir jetzt machen sollten.
„Was ist, wenn unsere Eltern wieder meinen, sie müssten ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen? Wenn sie auf Ideen kommen, die niemand anderes sonst noch auf der Welt hat?", begann ich schließlich irgendwann zu Zweifeln. Erst jetzt sah ich auch wieder in Jennys Augen und musste mit Entsetzen feststellen, dass sie noch verheulter waren, als zuvor. Sie zuckte allerdings nur kurz mit den Schultern und meinte dann: „Ich muss weiterpacken". Dann ging sie wieder zurück in ihr Zimmer und ließ mich alleine zurück.
Ohne mich irgendwie noch abzuschminken oder mich umzuziehen, warf ich mich auf mein Bett und schlief mit schlechtem Gewissen ein, da ich nichts mehr zu Jenny gesagt habe und sie morgen einfach ohne Weiteres gehen lasse. Wahrscheinlich sehe ich sie vorerst nie wieder und dann mache ich ihr so einen kalten Abschied. Eigentlich ist das, nach all dem, was sie für mich getan hat, nicht fair. Es ist einfach nur kaltherzig und arrogant von mir.
Am nächsten Morgen taten dann komischerweise meine Augen weh. Ein Blick in den Spiegel und ich dachte ernsthaft eine Sekunde an Selbstmord nach. Mein Anblick war einfach schrecklich. Rote Augen. Verlaufenes Make Up. Augenringe. Verknotete Haare und ein BH, an dem der Bügel rausguckte. Und dann hatte ich noch einen fetten Kratzer am Hals, fragt mich nicht, woher der kommt. Ich weiß es nicht!
Nachdem ich mein Bild ein bisschen erträglicher gestaltet habe, ging ich nach unten in die Küche und traf auf alle meine Mitbewohner. Zu meinem Erstaunen war auch Jenny da, die sich gerade eine voll gefüllte Müslischale mit etwa drei Tropfen Milch reinzog. Meine Mutter versuchte es sich an einem Apfel und Marco aß ein fett belegtes Brot mit Butter, fünf Scheiben Wurst und drei Scheiben Käse. „Wo ist Nutella?", fragte ich, ohne irgendwie speziell auf Jenny einzugehen. „Da wo sie immer steht, Lia", ermahnte mich meine Mutter. Ich schlich also zum Kühlschrank, öffnete ihn und motzte meine Mutter an, das die Nutella dort nicht sei. Marco prustete vor sich hin. „Was?", giftete ich. „Ich habe noch nie eine Nutella im Kühlschrank stehen gesehen". Meine Mutter schmunzelte ebenfalls. Als Trotzreaktion nahm ich mir ein Brötchen und aß es nackig, ohne alles. Schmeckte zwar sehr trocken, aber so schlimm war es auch wieder nicht. Anschließend schnappte ich mir meine Tasse und schlurfte zur Teekanne. Komische Blicke hafteten auf mir. Was war jetzt schon wieder los? Davon ließ ich mich aber nicht beeindrucken, schenkte mir ein, steckte ein Teebeutel in die Tasse, wartete kurz, tropfte ihn aus, schmiss ihn weg, rührte nochmals durch und ging zurück zu meinem Platz. „Na ob das schmeckt?", raunte meine Mutter Marco zu und Jenny verdrehte nur angewidert das Gesicht. Ein Seufzen von mir. Ich trank einen Schluck – und spuckte alles wieder aus. „Schmeckts?", fragte meine Mutter und musste sich zurückhalten, um nicht laut loszuprusten. „Also Kaffee mit einem Pfefferminztee habe ich auch noch nie gesehen", zwinkerte Marco meiner Mutter zu und küsste sie dann.
Kaffee?! Ich habe mir doch Wasser in die Tasse gefüllt! „Lia, du bist heute voll durch den Wind", fasste Jenny knapp zusammen und ich musste ihr verdammt nochmal Recht geben.„Ich weiß, man". Beleidigt ließ ich mich auf meinem Stuhl nieder und schaute in die Runde. Es war noch immer das exakt genau gleiche Bild, wie als ich den Raum betreten habe. Niemand sagte etwas, jeder konzentrierte sich auf sein Essen. „Ich gehe besser wieder", fasste ich einen Schluss und stand wieder auf.

Jennys Sicht

War Lia wegen mir so komisch heute? Sie war total abwesend. Das war untypisch für sie. „Ich gehe besser mal hinterher", gab ich meinem Vater und Silke zu verstehen. Die Beiden nickten nur verständnisvoll und ich machte mich auf den Weg in Lias Zimmer. Mittendrin stolperte ich immer wieder über Rücksäcke und gepackte Taschen von mir. Wollte ich das alles wirklich mit nach Kanada nehmen? Ich war immer noch überzeugt davon.

An ihrer Tür klopfte ich vorsichtig an. „Lia?". „Komm rein". Langsam drückte ich den Türgriff nach unten und drückte gegen das Gestell, damit es sich öffnete. Lia saß zusammengekauert auf ihrem Bett und hatte ihren Daumen im Mund. „Bist du wieder zum Baby geworden?", ironierte ich herum, doch witzig fand sie es nicht sonderlich. „So blöd wie ich mich unten angestellt habe, schon". Danach musste sie grinsen und ich muss jetzt meine Aussage von eben nochmal verbessern: Sie konnte darüber lachen. „Ach man Jenny", begann sie „ich werde dich so schrecklich vermissen". Ich setzte mich zu ihr aufs Bett und machte ihr klar: „Ich dich doch auch. Und Disse erst und den ganzen THW. Ich werde generell Handball vermissen. Das ist in Kanada jetzt nicht so die Sportart Nummer eins". Nun war Lia diejenige, die mir Hoffnung machte: „Ach, du hast ja sicherlich gutes Internet, dann können wir erstens immer in Kontakt bleiben und zweitens kannst du alle Spiele live verfolgen". „Da hast du Recht", meinte ich zu ihr und nun bildete sich auch bei mir wieder ein Lächeln auf den Lippen. „Sollte halt nur die Zeitverschiebung beachten", lachte ich und Lia vermutete: „Ich wette, du bist zu dumm dazu. Wahrscheinlich ist es dann bei dir 20.15 Uhr. Du schaltest den Laptop an und dann stellst du fest, dass Darts oder Teleshopping oder irgend so etwas läuft. Nein, Spaß, du wärst die letzte, der ich das nicht zutrauen würde, ehrlich, du hast es drauf". Einen kleinen Seitenhieb konnte ich mir zum Abschied allerdings nicht entgehen lassen: „Und du wärst auf deiner Liste wahrscheinlich die erste". „Du bist doch doof". Dabei lachte sie und schlug mir leicht gegen die Schulter. „Du auch", motzte ich noch lauter. „Äh, du bist gemein". Danach bekamen wir beide einen Lachflash und es dauerte mindestens zehn Minuten, bis wir uns wieder einigermaßen beruhigt hatten. Doch immer wenn wir uns gegenseitig in die Augen schauten, ging das Ganze wieder von vorne los, weil einer seine Mundwinkel nicht still halten konnte.

„JEEEENNYYYY", rief mein Vater von unten laut hoch. „Ich muss", meinte ich niedergeschlagen und stand langsam auf. „Jenny", hielt Lia mich zurück. Von Lachen war jetzt keine Spur mehr da. Lia bekam jetzt schon Tränen, und als ich mich in ihrem, und anschließend noch in meinem Zimmer ein letztes Mal umschaute, rannen sie auch bei mir wie Bäche über die Wangen. „Hier Lia, das habe ich noch für dich". Ich kramte kurz in meiner Tasche rum und überreichte Lia eine kleine Tüte. „Schau es dir aber erst an, wenn ich weg bin", hängte ich noch dran und Lias Nicken verriet mir, dass sie nicht mehr in der Lage war zu sprechen. Wir umarmten uns ein letztes Mal und nach ein paar Minuten stand mein Vater in der Türe und sagte mir noch einmal, dass wir jetzt echt losfahren sollten. „Ich werde dich nie vergessen. Und denk immer daran: Ich komme wieder zurück". Mit diesen Worten ließ ich Lia zurück, stieg stumm ins Auto ein und mein Vater startete den Motor. Ich betrachtete noch ein letztes Mal Kiel und genoss irgendwie den Regen, der auf das Auto niederprasselte. Schließlich kramte ich mein Handy hervor und es spielte mir das Lied: Niemals geht man so ganz – irgendwas von mir bleibt hier...

Lias Sicht

Ich fühlte mich leer, einsam, zurückgelassen. Mir fehlten die Worte. Ich lag auf meinem Bett und meine Tränen verwandelten sich schlagartig in Wasserfälle. Ich sah wahrscheinlich ähnlich aus, wie dieser eine Whatsappsmiley da. Nur der Unterschied zu mir war, dass ich noch eine Stufe trauriger war. Der Smiley musste sicherlich, wie ich auch, wegziehen von daheim, wahrscheinlich hat er auch keine neuen Freunde gefunden und war ganz traur-

*Lia? Was laberst du eigentlich für einen Scheiß?* Ich war heute irgendwie so durch den Wind, das war schon nicht mehr normal. Wann wollte Disse eigentlich kommen? Irgendwie brauchte ich jetzt jemanden zum r e d e n. Noch nicht ausgedacht stand meine Mutter schon im Türrahmen und hielt ein großes Tablett in der Hand. „Ich habe gedacht, du hast noch nicht richtig gefrühstückt. Habe dir dein Lieblingstoastbrot mit warmer Nutella und eine heiße Schokolade und ein paar Früchte zubereitet. Lass es dir schmecken". Irgendwie war ich ihr gerade sehr dankbar. Trotzdem nickte ich nur stumm, nahm ihr aber schnell das Tablett ab und stellte es vor mir ab.

Nach den ersten Bissen und den ersten Schlücken, ging es mir schon wieder etwas besser. „Glaubst du, also ich meine, also, denkst du, dass ich hier auch ohne Jenny überleben werde?", fragte ich sie. „Bevor du Jenny kanntest, hast du es hier auch ausgehalten. Dann hast du noch Rune und deine ganzen anderen Freunde. Deine Band darfst du auch nicht vergessen", machte sie mir klar. „Fuck. Anton, Lukas und Erik habe ich voll vergessen. Ich muss gleich mit ihnen skypen, wir müssen uns unbedingt mal wieder treffen", fiel mir ein. „Könnt ihr ja, aber jetzt komm erstmal runter, genieße dein Frühstück und dann gehst du den Tag ganz entspannt an", schlug sie vor. „Ich muss Disse abholen". „Kann ich machen, ich habe heute frei. Wenn du willst, kann ich ihn dir hierher bringen". War ja lieb gemeint, aber: „Nein danke, bringe ihn lieber heim und ich gehe später zu ihm rüber". „Wie du willst". Das wollte ich Disse hier nicht antun. Bei aller Liebe und bei allem Respekt, aber irgendwo hat dieses Haus hier Grenzen!


Schlimmer kann es eh nicht mehr werden!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt