ʀᴏᴏғᴛᴏᴘ

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Ich hatte es mir überlegt. Ich wollte mich nicht mit Taehyung unterhalten und den Therapeuten spielen. Mir ging es mindestens genauso beschissen. Warum sollte ich mich dann noch um die Probleme eines anderen kümmern?
Nur leider war es für diese Erkenntnis ein ganz kleines bisschen zu spät.

„Wie hast du das hier oben gefunden?", staunte der Lilahaarige beeindruckt, während ich mich auf dem Dach niederließ und versuchte es mir irgendwie bequem zu machen.

„Ich habe Röntgenaugen, die mir die Wege zu geheimen Durchgängen zeigen", murmelte ich und verschränkte die Arme unter meinem Kopf um ihn anschließend darauf zulegen und die Augen zu schließen.
Theoretisch könnte ich hier und jetzt einschlafen. Theoretisch.

Taehyung seufzte kurz auf und setzte sich neben mich, wohl bedacht darauf mich nicht anzustupsen.

„Also, Taehyung. Erzähl! Ich wette mit dir um gar nichts, dass du mindestens genauso viele Probleme hast wie ich", meinte ich und machte mein eines Auge auf, um den Jungen anzusehen.

„Also... Yoongi. Erstmal kannst du mich Tae nennen. Alle meine Freunde..."

„Seit wann sind wir Freunde?"

„...würden mich glaub ich so nennen."

Okay.
Das war unsensibel. Und das sagte ich.
Schuldbewusst setzte ich mich auf und sah zu ihm hoch. Taehyung hatte den Kopf gesenkt um meinen Blicken auszuweichen und die Arme fest um die angewinkelten Beine geschlungen.

„Tut mir Leid", murmelte ich und überwand mich eine Hand auf den Rücken des anderen zu legen und leicht darüber zu streicheln.
Ich war furchtbar, wenn es um das aufmuntern oder trösten anderer Menschen ging. Was vielleicht daran liegen könnte, dass ich es noch nie gemacht hatte.

„Ich hatte schon seit der siebten Klasse keine Freunde mehr", wisperte er leise und ich spürte wie sich etwas in mir zusammenzog.
„Was vielleicht daran liegen könnte, dass ich schon immer anders war, als sie."

Ich verstand auch ohne Worte was er mir sagen wollte. Auch wenn mir dafür noch einmal Jungkooks Stimme im Kopf nachhallen musste. Taehyu-... Tae war also das Opfer in der Schule, was wegen seiner Sexualität gemobbt wurde.

„Aber es ist nicht nur das was du denkst. Ich... ich wurde mehr oder weniger ausgenutzt."

Meine Müdigkeit rückte immer weiter in den Hintergrund und ich setzte mich direkt neben ihn um seine leisen Worte besser zu verstehen.

„Was ist denn passiert?", fragte ich und versuchte meine Neugier hinter Besorgnis zu verstecken.
Mein erstes, längeres und tiefgründigeres Gespräch ohne Jin seit Jahren. Und ich versagte mal wieder vollkommen.

„Vor circa drei Jahren hatte ich einen etwas längeren Schultag und war deshalb einer der letzten im Schulgebäude. Ich wollte nur noch mal schnell auf die Toilette, aber dort hat ein Mann gewartet. Es ging schon öfters rum, dass in den Schulen Vergewaltiger oder Entführer die Schüler in den Klos überraschten und ja... ich..."

Tae brach ab und vergrub sein Gesicht in den Händen, doch trotzdem sah ich wie Tränen über seine Wange kullerten. Auch wenn ich nicht wirklich viel von dieser Möchtegern-Gruppentherapie oder was auch immer das hier war hielt, verspürte ich den Drang ihm zu helfen.

Unbeholfen kniete ich mich vor ihn hin, immer darauf bedacht nicht den Halt zu verlieren und vom Dach zu fallen, und legte meine Hände auf seine Schultern.
Wobei ich mir mehr als affig vorkam, aber vielleicht war es ja so richtig.

„Hey", murmelte ich und schob mit meiner Hand sein Kinn leicht hoch.
Ich hatte das im Film gesehen. Das war immer die Szene vor dem langersehnten Kuss. Ich wollte Tae zwar absolut nicht küssen, aber mit der epischen Musik in meinem Kopf, wirkte die Geste irgendwie beruhigend.
Nicht nur für ihn.

Seine Augen waren rot verheult und er unterdrückte einen Schluchzer. Ich biss mir auf die Lippe und versuchte mich daran zu erinnern was die beste Alternative für den Kuss war.

„Es ist vorbei", verließen die Worte meinen Mund, ehe ich zweimal darüber nachdenken konnte. Wahrscheinlich hätte ich noch ein „Und jetzt erzähl weiter" hinterhergeschoben, wenn ich mir nicht auf die Zunge gebissen hätte.
So viel Selbstbeherrschung hatte ich.

Wahrscheinlich war das eine gute Antwort, denn Tae holte tief Luft um sich komplett zu beruhigen.
„Jedenfalls war ich dort. Jung, allein, hilflos und benutzt. Und dann kam Jimin rein. Der Kerl war schon lange weg und ich lag einfach nur nackt, zusammengekauert und traumatisiert auf den kalten Fliesen des Klos. Mir tat alles weh und ich habe so viel geheult und geschrien, dass meine Augen und meine Kehle gebrannt hatten wie Feuer. Außerdem war ich so heiser, dass ich keinen Ton herausgebracht habe. Ich hab gezittert wie sonst was. Doch er hat mich einfach nur angestarrt. Jimin hat mich angestarrt und dann nach einer Minute fluchtartig den Raum verlassen.
Ich weiß auch nicht wie ich es damals nach Hause geschafft habe, immerhin konnte ich kaum laufen. Aber ich ging die nächsten zwei Wochen nicht zur Schule. Eigentlich wollte ich ganz wegziehen. In eine andere Stadt. Aber meine Eltern hatten hier ihren Arbeitssitz und denen war ihre Karriere schon immer wichtiger als ihr Sohn."

Verbitterung schwang in seinem letzten Satz mit und weitere Tränen lösten sich von seinen Wimpern. Ich wischte sie vorsichtig von seiner Wange.

„Dass ich die Schule geschwänzt hatte fiel ihnen nicht auf. Doch dann bekamen sie einen Brief vom Direktor. Ich wollte ihnen nicht den Grund für die Fehltage verraten, weshalb ich nach der Schimpftirade ohne Widerspruch in die Schule gegangen bin.
Ein Fehler. Jimin hatte Jungkook offensichtlich davon erzählt und dieser hatte die Geschichte so abgeändert, dass ich angeblich über Jungkook hergefallen wäre und Jimin uns entdeckt hätte. Von da an war ich nicht mehr nur die kleine, dreckige Schwuchtel, sondern die Schulschlampe, mit der niemand was zu tun haben wollte und der man nicht trauen konnte. Natürlich glaubten alle Jungkook. Er war beliebt, hatte viel Geld und seine Eltern waren einflussreich. Mittlerweile haben die Prügeleien aufgehört, doch solche Kommentare kommen immer wieder."

Seine Worte klangen noch in meinem Kopf nach und ich brauchte eine Weile um sie zu verarbeiten. Letztendlich kam ich zu dem Endschluss, dass Taehyung mir Leid tat. Sehr sogar.
Und das er es bedeutend schlechter getroffen hatte als ich.
Gerade wollte ich weitere Tränen aus seinen Augenwinkeln wischen, als mir etwas auffiel.

„Wer ist Jimin?", fragte ich und warf dem Lilahaarigen einen prüfenden Blick zu. Dieser sah mir wieder in die Augen. Er hatte schöne Augen, fiel mir auf.

„Park Jimin. Der Typ der neben Jungkook gesessen hat. Der Silberhaarige. Früher war er ganz okay, aber seitdem er mit ihm befreundet ist, macht er bei jeder Scheiße mit, die andere verletzen", meinte Tae nur und sah an mir vorbei, als wäre diese Information alles andere als wichtig.

Park Jimin.
Fahrstuhljunge Park Jimin.
Mister Perfekt Park Jimin.
Ich zerstöre das Leben eines unschuldigen Vergewaltigungsopfers Park Jimin.
Was für ein Arsch.
Aber hübscher Name.

Nightmares  ⇢  YoonminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt