ʜᴏᴡ ʟᴏɴɢ

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Mir war der Schock offensichtlich ins Gesicht geschrieben, denn Taehyung sah mich besorgt an und war gerade versucht mir eine Hand auf die Schulter zu legen, doch seine Bewegung weckte mich aus meiner Trance.

Schnell wich ich seiner Hand aus, stand auf und setzte mich wieder neben ihn. Immer darauf bedacht einen angemessenen Abstand von mindestens fünfundzwanzig Zentimetern einzuhalten.
Wobei man den Mindestabstand eventuell, nach allem was er mir gerade erzählt hatte, auf zehn Zentimeter runtersetzen könnte.

„Und?", fragte er nach einem Moment Stille und ich kehrte von meinen abgeschweiften Gedanken wieder in die Gegenwart zurück.
In diesem Moment hatte ich wirklich tausend Antwortmöglichkeiten in meinem Kopf.
Das dumme war, dass mein Kopf kein fetter Ordner für mitfühlende Sprüche war. Alles was mir in diesem Moment einfiel würde nicht einmal ein Stein in so einer Situation sagen.
Wenn Steine reden könnten, was sie bestimmt können. Nur ist es ihnen egal was um sie herum passiert, weshalb sie nicht reden müssen...

„Schon scheiße...", murmelte ich halb abwesend und blickte stur geradeaus, während ich mich innerlich für diese Antwort schlug.
Dämlicher Kopf. Dämliche soziale Defizite.

„Tut mir Leid. War nicht so gemeint. Ist natürlich wirklich alles andere als schön was dir passiert ist", schob ich hinterher, vermied es aber Tae in die Augen zu sehen. Es tat mir irgendwie Leid, dass er mich aushalten musste.
Ich hatte keinerlei Menschenkenntnisse und so wusste ich auch nicht wie ich mit solchen Situationen umgehen sollte. Schon gar nicht mit so einer Situation.

„Alles gut. Ich versuche es einfach zu vergessen und ignorieren. Jungkook sucht sich hoffentlich bald ein neues Opfer", murmelte er, doch ich glaubte ihm kein Wort. So etwas konnte man nicht vergessen.
Ich wusste nicht einmal was schlimmer war. Die Tatsache, dass Tae vergewaltigt wurde oder das dieser Jungkook so einen Hass auf ihn haben musste, dass er sein Leben gleich komplett zerstörte.
Oder das mein fiktiver bester Freund da mitmachte.

„Und jetzt erzähl von dir", forderte er mich auf, setzte sich wieder aufrecht hin und versuchte sich in einem schiefen Lächeln, was in Kombination mit seinen immer noch etwas geröteten Augen unfassbar seltsam aussah.
Ich musste erst einmal meine Gedanken sortieren, bevor ich auf seine Worte einging. Zu viele Informationen auf einmal. Ich weiß ganz genau warum ich nicht mit Menschen rede.

„Was willst du denn hören?", stellte ich ihm die Frage, in der Hoffnung meine Antworten etwas heraus zu zögern.
Auf jeden Fall durfte ich nicht weinen, auch wenn ich das wahrscheinlich sowieso nicht machen würde. Ich hatte seit drei Jahren nicht mehr vor anderen Menschen geweint.
Und ich durfte nicht so klingen, als ob ich seelische Schäden davon getragen hätte. Wer weiß, ob der Lilahaarige mich dann in den Arm nehmen will, frei nach dem Motto „Alles wird gut".

„Warum bist du so unfassbar mitfühlend?", fragte er und sah mich von der Seite an. Die Ironie in seiner Frage war nicht zu überhören, doch ich beschloss sie nicht als Vorlage für eine bescheuerte Antwort zu benutzen.

„Weil ich ein Stein bin. Oder gerne einer wäre", antwortete ich deswegen und legte meinen Kopf schief um ihn anzusehen.
Eine Weile starrten wir uns einfach nur an.
Er genervt und ich mit einem versuchten Lächeln.

Er sagte nichts.
Ich sagte nichts.
Er blinzelte, hielt aber den Blickkontakt.
Und ich fing langsam an an meinen Fähigkeiten zu zweifeln.

„Na schön", begann ich und hoffte, dass sich die einzelnen Wörter, die ein meinem Kopf herumschwirrten, zu ordentlichen und sinnvollen Sätzen bilden würden.
„Ich habe noch nie wirklich lange oder tiefgründige Gespräche mit anderen geführt. Ich weiß nicht wie das geht. Und schon gar nicht hat mir jemand sein Herz ausgeschüttet. Wenn ich so darüber nachdenke, dann war das die dümmste Idee der Welt. Du tust mir Leid, ich bin gern dein einziger Freund, aber nur wenn du damit klarkommest, dass ich ein Wrack bin, dass niemals ernsthaft mit dir reden wird. Also komm. Lass uns darüber heulen, wie scheiße die Welt ist und Kumbaya am Lagerfeuer singen."

Nightmares  ⇢  YoonminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt