ᴀɴᴏᴛʜᴇʀ ᴡᴏʀʟᴅ

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Ich wäre so oder so nicht aus dem Fenster gesprungen.
Dort unten waren sorgfältig gepflegte Rosenbüsche, die schon in der Nacht so ausgesehen hatten, dass sie sich an einem rächen würden, sobald man auch nur die Blüten angucken würde.
Mit anderen Worten und für Menschen, die meine Denkweise nicht verstanden: Ich würde aufgespießt werden und vermutlich verbluten, wenn ich aus dem Fenster gesprungen wäre.

Aber zum Glück hatte ich auch nicht weiter über diese Fluchtmöglichkeit nachgedacht, als Jimin einen Schritt auf mich zugemacht hatte.
Meine Gedanken drifteten wieder zu seinem Körper ab, der mir schon öfters aufgefallen war, ich ihn allerdings immer ignoriert hatte, da es mir affig vorkam eine Traumgestalt so lange anzustarren und sich nichts weiter zu wünschen als sie zu berühren.

Doch jetzt stand er vor mir.
In echt.
Zum Greifen nahe.
Allerdings mit diesem Blick, den ich nicht deuten konnte, da er alles zwischen Ich-würde-dich-jetzt-am-liebsten-in-die-Rosen-schubsen und Küss-mich-nochmal bedeuten konnte.

„Ich habe dir eine Frage gestellt", murmelte er und mich überraschte in diesem Moment wirklich die Ruhe, die in seiner Stimme lag. Entweder wollte er sich nicht mit mir anlegen oder er hatte tatsächlich nicht vergessen, was er mir vor gut einer Woche gesagt hatte.

Um wenigstens einigermaßen so rüberzukommen, als hätte ich einen Plan von meinem Leben griff ich nach meiner Tasche, die immer noch auf dem Boden lag und fischte das Buch mit dem schwarzweißem Einband heraus.

Unwillkürlich schossen mir Bilder durch den Kopf, die ich mir gemacht hatte, während des Lesens. Von dem Protagonisten, der in einer Zeitschleife feststeckte und an jedem Tag versucht seine erste große Liebe vor dem Tod zu retten und dabei von Tag zu Tag mehr das wahre Leben kennenlernte und anfing rationaler zu denken.
Über sich hinaus zukommen und Dinge zu entdecken, die er sich nicht einmal im Traum vorgestellt hatte.

Und wie das Buch schließlich damit endete, wie er dabei zusah, wie sie von einem Auto angefahren wurde und er loslassen konnte.
Für immer.

„Was ist damit?", fragte Jimin misstrauisch und trat noch einen Schritt näher, um mir das Buch aus der Hand zu nehmen.

Ich räusperte mich einmal, bevor ich sprach, doch trotzdem hörte sich meine Stimme viel zu tief und kratzig an.
Ich sollte mehr reden.

„Ich... habe es mir ausgeliehen, als ich vor einem halben Jahr hier war", murmelte ich und sah auf meine Füße. Irgendwie war mir diese ganze Situation unangenehm. Nicht zuletzt, weil Jimin mich mit diesem Blick musterte, der mir irgendwie das Gefühl vermittelte etwas falsch gemacht zu haben.

„Das... ist mein Lieblingsbuch", wisperte Jimin so leise, dass ich es beinahe nicht verstanden hätte, wenn es nicht so still im Zimmer gewesen wäre.
Vorsichtig hob ich meine Kopf um ihn wieder anzusehen.
Seine Augen funkelten, als er meinen Blick erwiderte.

Eine Weile standen wir uns einfach nur gegenüber. Er mit dem Buch in der Hand, immer noch in seinen durchgeschwitzten Klamotten.
Und ich mit meinem Rucksack in der einen Hand und meine andere zu einer Faust in meinem Jackentasche vergraben, in der Hoffnung meine Nervosität so zu verstecken.

Es macht mir Angst, wie er mich ansah und gleichzeitig war es das schönste Gefühl der Welt.
Noch nie hatte mich jemand so angesehen.
Nicht einmal Jin.

„Du erinnerst dich an den Tag, als ich dich gefragt habe, ob du... also ob wir... und so... du weißt was ich meine, oder?"

Ein nervöses, helles Lachen verließ Jimin's Mund und ich dachte wieder an den Tag zurück als es mich an ein Glöckchen erinnert hatte.
Ich mochte sein Lachen.

„Ja, also deine Mutter meinte du musst noch etwas einkaufen gehen. Wir können ja ein bisschen spazieren gehen", schlug ich vor und sah den Smalltalk schon vor meinem inneren Auge, der dadurch entstehen würde.
Wie sollte man ein Gespräch mit ihm anfangen?
Er war nicht Jiminie, der immer sofort wusste, woran ich gerade dachte und was mir zu schaffen machte.

„Okay. Ich bin kurz duschen. Ist es okay, wenn du so lange allein bist?", fragte er mich, meinen Gedankenfluss unterbrechend.
Ich nickte einfach nur und setzte mich auf sein Bett, was noch immer gut roch und extrem weich war.

Als die Tür sich jedoch geschlossen hatte, waren meine ersten Gedanken keine verrückten Überlegungen, weil ich Angst hatte.
Nein, mir war nur wieder etwas eingefallen.

Ohne noch einmal zur Tür zu sehen, zog ich Jimin's Traumtagebuch unter seinem Kissen hervor und blätterte zu der einen Seite zurück, bei der ich aufgehört hatte zu lesen.

Und mit einem Mal bekam ich ein unangenehmes Ziehen im Bauch, als ich mir die letzten Absätze noch einmal durchlas.

[...]

...Aber zurück zum Wesentlichen. Wir waren auf einer Brücke, die eingestürzt ist. Ich habe es irgendwie geschafft ihn an der Wasseroberfläche zu halten, auch wenn ich am nächsten Morgen nass geschwitzt und vollkommen fertig aufgewacht bin. Ich weiß außerdem noch, dass er einmal kurz weg war. Er hat sich einfach aufgelöst und das nächste Mal ist er wiedergekommen, wo er an den Strand gespült wurde, wo ich es hingeschafft habe. Dort hat er mich Jiminie genannt. Ich kann mir allerdings keinen Plan machen, wie er zu dem Spitznamen von Nuri gekommen ist.
Aber das war mir auch egal.
Ich habe ihn geküsst.
Wenn auch nur kurz.
Ich habe ihn geküsst und bin so meiner Entscheidung näher gekommen.

[...]

Es war beängstigend.
Es gab nur wenige Sachen, die mich noch unwohler fühlen ließen, als es gerade der Fall war.

In meinem Kopf setzte sich das Puzzle zusammen und offenbarte mir nach und nach immer mehr die unrealistische und gleichzeitig bittere Wahrheit.

Gedankenverloren ließ ich das Buch sinken und stopfte es wieder zurück unter das Kissen, bis ich mich wieder auf die Matratze fallen ließ und mein Gesicht in den Händen vergrub.

Ich hatte Jimin geküsst.
Und es hatte sich so verdammt echt angefühlt.
So richtig.

Mein Kopf fühlte sich mit einem Mal bleischwer an und meine übrigen Gedanken ertranken in einer Masse, die die Zeit verlangsamte und so verhinderte, dass ich sie zurückerlangen konnte.

„Sooo, fertig! Wir können los", hörte ich auf einmal Jimin's viel zu fröhliche Stimme und riskierte einen Blick nach oben nur um festzustellen, dass er die Tür aufgestoßen hatte und offensichtlich Klamotten mit ins Bad genommen hatte um sich da umzuziehen.
Schade.

Ich zwang mir ein Lächeln auf und griff nach meiner Tasche.
Es tat mir zwar etwas Leid, aber ich würde das hier ganz bestimmt nicht so lange ausreizen, bis ich wieder übernachten könnte.
Zumal ich nicht einmal meine Tabletten dabeihatte.

„Weißt du, was du brauchst?", fragte ich ihn und er nickte einfach nur.

„Dann los", meinte er und verschwand durch die Tür, in der Hoffnung, dass ich ihm folgte.
Was ich mit einem letzten Blick zurück auf das Notizbuch auch tat und mir währenddessen einredete, dass diese Welt eine andere war als das Hier und Jetzt.
















Okay... das sich das ganze so in die Länge zieht war nicht geplant ^^'

Nightmares  ⇢  YoonminWo Geschichten leben. Entdecke jetzt