Prolog

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Maeve

„Wo ist Aidan?"

Die Frau vor mir sah mich fragend an. „Wer?"

Ja. Gute Frage. Wer?

Ich hatte keine Ahnung, von wem ich eben gesprochen hatte. Aber aus irgendeinem seltsamen Grund, klebte dieser Name in meinem Kopf fest, auch wenn ich mich sonst an nichts erinnern konnte. Nicht einmal daran, dass ich Maeve hieß. Zumindest hatte die Frau mich eben noch so genannt. Unschlüssig, was ich nun tun sollte, drehte ich mich wieder zum Fenster. Die Scheiben reflektierten mein Spiegelbild.

Wie seltsam, dachte ich. Ich kann mich an nichts erinnern, aber ich weiß, wie ich aussehe.

Zumindest erkannte ich meine hellbrauen Haare. Oder waren sie blond? Und um meinen Hals lag eine filigrane Kette aus Silber, deren Anhänger ein Adler mit smaragdgrünen Augen war. Ich hatte das nagende Gefühl, dass ich jemanden mit solch grünen Augen kannte. Jemand anderen, als die Frau im Rollstuhl, die ich eben durch die offene Türe hatte sehen können. Doch sobald ich versuchte, das Bild zu greifen, entglitt es mir vollständig.

„Wer...", begann  ich und fixierte die Reflektion der Frau. „Wer sind Sie?"

Ein mildes Lächeln trat auf ihre Lippen. Irgendwie fand ich, dass sie mir ähnlich sah. Die blasse Haut, die braunen Augen, die hellen Haare. Sie kam mir auch bekannt vor. Nur wo hatte ich sie schon einmal gesehen?

„Ach, Süße." Sie trat näher an mich heran. „Selbst, wenn ich mir nun die Mühe machen würde, es dir zu erklären, würdest du dich in nur wenigen Tagen schon nicht mehr daran erinnern."

So wie jetzt? Litt ich an Amnesie? Alzheimer? Nein... Dafür war ich zu jung. Oder? Wie alt war ich? Warum wusste ich die Namen von Krankheiten, nicht aber, wer ich selbst war? Unruhe kroch in mir hoch.

Ich drehte mich wieder zu ihr. „Sagen Sie es mir. Wer sind Sie? Und wer bin ich?"

Die Frau deutete auf den kleinen Tisch mit den zwei roten Plastikstühlen, und wir setzten uns. Der Raum hier kam mir ebenfalls bekannt vor. Alles sah pingelig sauber und ordentlich aus. Beinahe klinisch. Jedoch wusste ich nur, dass ich in diesem Bett aufgewacht war.

„Du bist gestorben", begann die Frau, und aus irgendeinem Grund, hielt ich sie noch nicht für völlig verrückt. Sie deutete auf meine Unterarme, auf denen sich dunkelrote Striche, wie Narben, auf der Innenseite entlangzogen. „Du hast dir die Pulsadern mit Dämonenglas aufgeschnitten, um deinen Dämon zurück in die Hölle zu schicken, und ihn so vor dem Tod bewahrt."

Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte ich die Frau. Dämonen? Dämonenglas? Hölle? „Woher wollen Sie das wissen? Wer sind Sie?"

„Ein Freund von dir hat es mir erzählt."

„Ein Freund?" Aidan?

„Chase Kober." Ich wusste nicht, warum mir, absurder Weise, der Geruch von Scotch in die Nase stieg. Einen Chase kannte ich nicht. „Ich wusste, dass du gestorben bist. Ich habe es gespürt." Bin ich tot? 

„Sie waren gar nicht bei mir, als es passiert ist?"

Die Frau schüttelte den Kopf, und ich fragte mich abermals, wer sie war. „Wir kennen uns nicht, Maeve. Wir haben einander noch nie zuvor gesehen."

Selbst, wenn ich mich daran erinnert hätte, wer ich war, bezweifelte ich, dass ihre Worte mehr Sinn ergeben hätten. „Woher wussten Sie dann, wo ich bin?"

„Odilia hat es mir gesagt." Eine Odilia kannte ich auch nicht. Mein Kopf begann zu pochen. „Sie hast du schon einmal getroffen." Aha. „Ich habe dich zurückgeholt. Ich habe den Tod überlistet, wenn man so will."

„Wie bitte?"

„Es ist eigentlich nicht erlaubt", lenkte die Frau ein. Als ob das die verwirrende Tatsache, an ihrer Aussage gewesen wäre. „Aber ich hatte noch nie die Gelegenheit, dich kennen zu lernen. Es sind gefährliche Zeiten, in denen wir leben."

Ich habe mich nicht achtzehn Jahre von ihr ferngehalten, um sie jetzt Gefahren, wie Jägern, oder noch schlimmer, Cillian auszusetzen. Die Worte, die sie eben auf dem Gang gesagt hatte, hallten in meinem Kopf wider. Ich konnte mir darauf keinen Reim machen. Sie hatte sich achtzehn Jahre von mir ferngehalten? Warum? Zumindest wusste ich nun, dass ich älter, als achtzehn sein musste.

Ihren Worten konnte ich entnehmen, dass sie mich hatte beschützen wollen. Aber wovor? Vor Jägern? Hatte sie Angst, ich würde im Wald mit einem Wildschwein verwechselt und abgeschossen werden? Und wer zum Henker war Cillian?

Die Frau beugte sich zu mir. Ihr Gesichtsausdruck hatte eine Ernsthaftigkeit angenommen, die mich beunruhigte. „Hör mir gut zu, Maeve. Auch wenn du dich nicht an mich erinnern wirst, darfst du einen Namen nicht vergessen."

„Welchen?"

„Cillian." Da haben wir ihn. Wer ist das? „Er weiß nicht, dass es dich gibt, und das muss unbedingt so bleiben, hast du das verstanden?" Wäre bestimmt einfacher, mir den Namen zu merken und mich vor ihm zu verstecken, wenn ich wüsste, wer er ist. War er ein Jäger? Mit einer Schrotflinte auf Hasenjagd in den Feldern? Die Vorstellung fand ich ziemlich komisch.

„Wer ist Cillian? Und ich frage noch einmal: Wer sind Sie?" Die Frau setzte sich aufrecht hin und betrachtete mich einen Augenblick. Dann erhob sie sich, ging zur Türe, legte ihr Hand darauf, und ich konnte ein metallisches Klicken hören.

„Also, schön." Sie drehte sich wieder zu mir. „Ich erzähle dir alles."

Cursed Boy (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt