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Beverly

Mein Tag hatte so gut angefangen. Betonung liegt auf hatte.

Ich hatte endlich wieder ausschlafen können, nachdem mir gestern Nachmittag ein kleiner Geistesblitz gekommen war, der mich vielleicht tatsächlich auf eine Spur bringen würde, die zu der Antwort auf die Frage, warum ich nicht tot war, führen könnte. Da es draußen regnete und ziemlich düster war, war ich erst um elf aus den Federn gekrochen, guter Dinge mit dem Bus in die Stadt gefahren und hatte mir einen Chai Latte bei Starbucks geholt. Zu Hause hatte ich mir meinen Laptop geschnappt und über die Einrichtung meines Hauses nachgedacht. Chase hatte recht, ich würde nicht ewig in dieser Bruchbude leben können. Ich fand blaue Vorhänge schön. Oder ein flauschiger Teppich? Fliesen im Bad, ein Lampenschirm, eine neue Couch und ein Esstisch. Ja, ich war wirklich gut drauf gewesen und hatte das Gefühl gehabt, dass vielleicht bald alles einen Sinn ergeben könnte. Dass mein Leben vielleicht endlich auf ein paar soliden Steinen aufgebaut war, dass ich Fuß gefasst hatte und dass ich endlich ein normales Leben würde führen können. Offenbar war normal relativ.

Denn Chase hatte meine Euphorie genommen und wie eine Seifenblase zerplatzen lassen.

Er hatte eigentlich gestern vorbeikommen wollen, aber wie sich herausstellte, war, zu dem Zeitpunkt, in dem ich eine mögliche Spur entdeckt hatte, ein neues Problem ins Rampenlicht getreten.

Jetzt saß ich auf der zerkratzten Couch und wusste wieder nicht viel mit meinem Leben anzufangen.

Wie hatte ich nur so dumm sein können? Ich war doch selbst jahrelang an einen Dämon gebunden gewesen. Klar, Addie hatte kurz vor meinem Selbstmord noch keine Ahnung von Dämonen gehabt und das Meiste hatte ich ihr beigebracht, aber wie hatte ich nur glauben können, dass sie meine Anwesenheit nicht würde spüren können, nachdem sie mehrere Monaten nur mit Vaya zugebracht hatte? Hatte ich erwartet, dass sie auf ihrem Wissenstand verweilen würde? Sie war eine Bücherratte. Sie liebte nicht nur Literatur, sondern auch Wissen, und Wissen über Dämonen war für sie essenziell geworden. Mittlerweile war sie vermutlich ziemlich gut aufgestellt, was die Theorie und Praxis dämonischer Fähigkeiten anging.

„Ich bin es ja gewohnt, Lügennetze aufrecht zu erhalten, aber dieses hier reißt gerade an allen Ecken und Enden. Weißt du, wie schwer es ist, jemandem permanent weiszumachen, dass ein Mensch tot ist, der noch lebt?", fragte Chase.

„Hab ich nicht gesagt, du sollst mir eine Minute geben?", entgegnete ich müde und rieb mir die Schläfen. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er jede Sekunde zerbersten.

Addie wusste, dass ich noch lebte. Gut, sie wusste es nicht, sie hatte lediglich eine starke Vermutung, aber das reichte ja wohl vollkommen. Sie war nicht dumm. Sie würde sich nicht belügen lassen, jedenfalls nicht lange.

Ich richtete mich auf. „Wie hast du es geschafft, Trish zu belügen?"

„Ist das eine ernst gemeinte Frage?" Er verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue hoch. „Ich verbringe seit Jahren praktisch die Hälfte meiner Zeit mit dieser Frau, du glaubst doch nicht etwa, dass ich nicht längst herausgefunden habe, wie man ihre Gabe umgeht, oder?"

Ich ließ mich gegen die Lehne der Couch sinken. Meine Hände waren feucht. Der Gedanke daran, dass alle Mühen, meine Freunde aus meinen Angelegenheiten rauszuhalten, um sonst gewesen sein könnten, verursachte ein nervöses, ängstliches Flattern in meiner Brust. Ich verspürte den Drang, aufzuspringen und einfach wegzulaufen. Egal wohin, irgendwohin laufen. Vielleicht vor Aidan's Türe, um dem ganzen Versteckspiel ein Ende zu bereiten.

„Ich glaube, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt für Alkohol, was meinst du?" Chase drehte sich um und machte sich in den Küchenschränken auf die Suche nach Scotch, fand aber nur eine Flasche Rotwein und füllte zwei Gläser bis zur Hälfte. „Ist dir aufgefallen, dass es immer mehr Probleme werden, anstatt weniger?" Er ließ sich neben mir fallen und drückte mir das Glas in die Hand. Seine Miene verriet mir, dass er gleich wieder anfangen würde, das Universum zu hassen. „Das Mädchen mit den silbernen Augen, Aidan, der einen Bezug zu ihr zu haben scheint, Addie, die ihre Fürsorge für ihre Freunde offenbar in Irland vergessen hat, Trish, die zu Hause erdrückt wird und du mit deinen..." Er warf mir einen Seitenblick zu. „Alkoholproblemen."

Cursed Boy (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt