Aidan
Addie war immer schon ein Mädchen gewesen. Und ich meine nicht das Geschlecht, sondern das, was man unter einem klischeehaften, verliebten, fünfzehnjährigen Mädchen versteht.
Als sie damals hoffnungslos Trev verfallen war, hatte ich sie einmal tatsächlich dabei erwischt, wie sie in unserem Garten gesessen, die Blüten von den Margeriten gezupft und dabei Er-liebt-mich-er-liebt-mich-nicht gespielt hatte. Damals hatte ich sie ausgelacht.
Heute verstand ich.
Ich kam mir bescheuert dabei vor, im Park auf der Bank zu sitzen, auf Jo zu warten, die Kaffee holte, und Blüten von einer gelben Blume zu zupfen während ich: „Sie verzeiht mir, sie verzeiht mir nicht, sie verzeiht mir, sie verzeiht mir nicht...", vor mich hin murmelte. Manchmal brauchte es einfach einen Wink des Schicksals oder des Universums oder Gottes, wenn einen das Leben keine klaren Antworten geben wollte.
„Und?" Wie aus dem Nichts tauchte Jo neben mir auf. „Liebt sie dich?"
Ich ließ die halb kahle Blume fallen. „Ha ha." Jo reichte mir meinen Kaffee.
„Komm schon." Sie setzte sich neben mich auf die Holzbank und hatte ihren besten Ich-bin-in-der-Stimmung-jemanden-aufzuziehen Blick. „Zu welcher Frau gehörte dieses bezaubernde Blümchen?"
Ich trank einen Schluck. Mittlerweile hatte ich Jo verraten, wie Addie's Name lautete. Ob das nun ein Fortschritt war? Keine Ahnung.
„Addie."
„Igitt?"
„Sei still."
Sie kicherte. „Aber jetzt mal im Ernst. Du verhältst dich echt seltsam seit gestern. Ich meine, du sitzt hier und verschandelst Blumen. Hat unser Vater nicht deine Erwartungen getroffen?"
„Das ist es nicht", erwiderte ich sofort. Ich hätte zwar nicht behaupten können, dass es mir sonderlich gut ging, aber meine Unruhe heute hatte andere Ursachen, als das Gespräch mit Robert. Zwar hatte mich die Frage, warum ich durch Zufall den Namen erhalten hatte, den meine richtigen Eltern für mich ausgesucht hatten, Jo jedoch nicht, in dieser Nacht wachgehalten, aber da war noch etwas Anderes.
Ein seltsam schweres Gefühl lag mir im Magen. Und Leugnung brachte nichts: Ich vermisste Addie. Das schlechte Gewissen schlich sich immer näher an mich ran. Ich konnte nicht ewig davor weglaufen, langsam ging mir die Puste aus.
„Denkst du, sie verzeiht mir?"
Jo setzte sich aufrecht hin und betrachtete mich wie ein wachsamer Hund. Wie immer, wenn von meiner falschen Familie die Rede war. „Keine Ahnung", meinte sie knapp und richtete ihren Blick auf die Wolkenkratzer, die hinter den Baumkronen hervorragten. Es war ein sonniger Nachmittag. „Aber selbst wenn nicht, was kümmert es dich? Sie ist nicht deine Schwester. So gesehen ist sie nur höchstens eine normale Freundin. Freunde sind austauschbar."
„Warum sagst du sowas?"
„Ich mein ja nur..." Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Auf mich hat sie nicht sehr Verständnisvoll gewirkt. Eher so, als wollte sie dich von mir fernhalten. Ich bin deine Schwester." Ich war mir nicht sicher, ob ich Addie's Verständnis überhaupt verdient hatte. Ich hatte wirklich Scheiße gebaut. Mehr als einmal. Und der Gedanke daran, sie verloren zu haben -vielleicht für immer- machte mir mehr und mehr Angst, weil ich begriff, was das bedeuten würde. Ich hatte eigentlich wahnsinniges Glück gehabt, einen Menschen wie sie in meinem Leben gehabt zu haben. Sie hatte es nicht verdient, dass ich mich ihr gegenüber so verhalten hatte.
In den letzten Tagen war es Jo nicht langweilig geworden, immer wieder zu betonen, dass wir Zwillinge waren. Ich wusste nicht, was dahinter steckte. Vielleicht war das nur eine anfängliche Phase. Vielleicht war sie ein bisschen neidisch darauf, dass Addie mich ihr ganzes Leben lang kannte und Jo nicht, und ich sie immer wieder zur Sprache brachte. Seit ich ihr gesagt hatte, sie solle mich in Ruhe lassen, dachte ich einfach zu häufig an sie. Und während ich immer näher dran war, meine Sachen zu packen, nach Fresno zurückzufliegen und meinen Seelenfrieden zu suchen, versuchte Jo mich dazu zu überreden, hier zu bleiben. Sie hatte mir bereits alle Kurse und Professoren an der NYU aufgelistet und führte mich täglich an die schönsten, halbwegs ruhigen, Plätze in New York, um mich davon zu überzeugen, dass man hier durchaus leben konnte.

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Cursed Boy (Band 2)
Paranormal„Wie soll ich sie vergessen, wenn ich ständig daran erinnert werde, dass ich sie vergessen soll?" *** Wann ist ein guter Zeitpunkt, um eine geliebte Person gehen zu lassen? Das fragt sich auch Aidan, als er, selbst nach vielen Monaten, Beverly nicht...