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Aidan 

Ich hatte es getan. Ich hatte sie wirklich angerufen. Heute um vier. Jo und ich.

Und ich war nervöser und aufgeregter, als vor einer Prüfung.

Ich versuchte mich abzulenken, indem ich eben für genau diese anstehende Prüfung zu lernen versuchte, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich wäre am liebsten sofort losgefahren. Aber es hätte nichts gebracht, denn Jo würde nicht vor vier im Starbucks sitzen. Vielleicht würde ich heute endlich Antworten auf die Fragen bekommen, die ich monatelang von mir weggedrückt hatte. Gleichzeitig war ich mir unsicher, ob ich diese Antworten überhaupt wirklich wollte. Ich meine, mir ging es doch gut. Ich hatte ein tolles, normales Leben. Eigentlich. Diese Antworten würden entweder alles aufklären und besser, oder alles noch viel komplizierter und beschissener machen. Es war eine Fünfzig-Fünfzig-Chance. Und ein Risiko, das ich, Volltrottel, bereit war einzugehen.

Ich saß in meinem Zimmer über meine Unibücher und meine Mitschriften gebeugt, als die Wohnungstüre geöffnet wurde und Trish und Addie lautstark in die Wohnung polterten. Offenbar redeten sie wieder miteinander. Nein. Sie stritten. Angestrengt stieß ich den Atem aus. Die beiden hatten in den letzten paar Tagen drei Mal telefoniert, mit der Intention, sich zu versöhnen, aber es hatte immer mit lautem Gebrüll und Anschuldigungen geendet und damit, dass Addie ihr Handy in eine Ecke geworfen hatte. Gewundert hatte es mich nicht. Uns allen fehlte in den letzten Tagen Schlaf und der entscheidende Streitpunkt war, dass eine Tote wieder auferstanden war. Wir waren alle mehr als leicht reizbar. 

Dass die Zwei sich jetzt offenbar dazu entschieden hatten, diesen Konflikt von Angesicht zu Angesicht aus dem Weg zu räumen, beunruhigte mich ein wenig.

„Ich versteh dich doch!", rief Trish aufgebracht. „Du hasst Beverly für das, was sie getan hat. Glaub mir, wenn meinem kleinen Bruder so etwas passiert wäre, dann würde ich genauso handeln. Aber Beverly zu hassen, weil sie uns in dem Glauben gelassen hat, sie wäre tot, nur, weil sie uns aus dieser Sache raushalten wollte, scheint mir nicht richtig zu sein."

„Seit wann ist sie deine beste Freundin?", fauchte Addie wütend. Vielleicht auch ein bisschen verletzt. Die ganze Woche hatte Trish sich bei Beverly vergraben, und ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, warum. Ich wusste auch nicht, was die beiden die ganze Zeit machten. Irgendein Hexen-Dämonenkram, der mich herzlich wenig interessierte. Aber Addies Laune war dadurch an ihrem Tiefpunkt gelandet, was nicht sonderlich lustig für mich gewesen war. Ihre Launen waren nicht immer mit Ben&Jerry's therapierbar.

„Und du verstehst es nicht! Ganz und gar nicht! Als Beverly sich umgebracht hat, bin ich gegangen. Ich habe Aidan-" Addie brach ab und ich spitzte die Ohren. Ich konnte förmlich spüren, wie sie die Wahrscheinlichkeit abwog, ob ich zu Hause war, oder nicht, aber vermutlich sah sie meine Schuhe, meine Jacke, oder meine Schlüssel genau in diesem Moment. Ich stand auf und schlich zur Türe. Vermutlich hätte ich nicht lauschen sollen, aber wenn sie über mich redete, ging es mich doch wohl etwas an.

„Ich hab ihn allein gelassen", fuhr sie mit wesentlich leiserer Stimme fort. Ich musste mich anstrengen, etwas zu verstehen. Gott, was hätte ich in diesem Moment für ein dämonisches Supergehör gegeben? „Ich bin einfach weggegangen, weil ich nur gesehen habe, dass ich mein Kind umgebracht habe, dass ich niemals wieder Kinder haben werde, dass ich an einen verdammten Dämon gebunden bin, dass Jacob-" Sie brach wieder ab. Entweder flüsterte sie jetzt zu leise, oder sie beendete ihren Satz nicht. „Ich hab meinen Bruder im Stich gelassen, und du hast doch gesehen, wohin das geführt hat. Ich fühle mich wie ein furchtbarer Mensch. Und ich werde dieses Gefühl nicht los, es ist schlimmer, als von einem Dämon besessen zu sein." Wie war es nur möglich, dass mir Addies schlechtes Gewissen ein schlechtes Gewissen bereitete? Ich hatte nicht gewusst, dass sie sich die Schuld dafür gab, dass mein Leben so schnell den Bach hinunter gegangen war und ich wieder zu Drogen gegriffen hatte. Es war nicht ihre Schuld gewesen, sondern Beverlys. Und meine eigene. Ich hätte gar nicht gewollt, dass Addie geblieben wäre. Gut, der selbstsüchtige Teil von mir hatte Addie in der Zeit dafür gehasst, dass sie gegangen war. Aber das bisschen Vernunft, das damals noch in mir gesteckt hatte und heute wieder den größten Teil meines Denkens einnahm, wusste, dass sie ihr eigenes Leben hatte gerade biegen müssen, bevor sie auch nur hätte in Erwägung ziehen können, mir zu helfen. Und heute ging es uns beiden wieder gut, das war doch die Hauptsache, oder nicht? Wäre sie geblieben, wäre sie nur weiter kaputt gegangen.

Cursed Boy (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt