Aidan
Ich war mir nicht sicher was in Beverly's Kopf vorging, als sie begriff, dass es nicht Trish war, die unten im Wohnzimmer Klavier spielte. Ich wusste auch nicht, was in meinem Kopf vorgegangen wäre, wenn es mein Haus gewesen wäre. Aber bevor ich mit einem Mörder rechnete, glaubte ich eher an einen psychisch kranken Menschen. Wer sonst sollte um acht Uhr morgens in ein Haus einbrechen, um Klavier zu spielen?
Aber Beverly schien felsenfest mit einem Serienkiller zu rechnen, zumindest sah sie mich so schockiert und verängstigt an, als würde sie jeden Moment vor Panik in Tränen ausbrechen. Vielleicht hätte ich mich genauso gefühlt, wenn ich als Kind entführt worden wäre. Aber da das nicht der Fall war, war ich im Prinzip mehr gespannt auf die Person, die dort unten am Flügel saß.
Ein bisschen gestört bist du schon, das musst du zugeben.
Ich beschloss Beverly zu beruhigen, bevor sie an Herzversagen sterben würde. „Ich werd' mal nachsehen, wer das ist."
Mit einem Satz war sie bei mir und krallte sich an meinem Unterarm fest. „Nein, nein, nein, nein! Bist du wahnsinnig?", fauchte sie im Flüsterton. In ihren Augen spiegelte sich echte Angst. Nichts Gestelltes, nichts Übertriebenes. „Da unten könnte jeder sitzen! Ein Jäger zum Beispiel! Oder sonst jemand, der uns umbringen will!"
Ich musste schmunzeln. „Ein Mörder, der uns erst ein Ständchen spielt, bevor er die Treppen hochkommt und uns absticht?"
Sie schlug mir kräftig auf den Oberarm. Langsam fragte ich mich wirklich, warum alle zu glauben schienen, ich sei ein Sack Mehl ohne Schmerzempfindung. Warum haute mich ständig jeder? „Hör auf damit, das ist nicht lustig!", zischte sie. „Wir sollten abhauen!"
„Was schlägst du vor? Aus dem Badezimmerfenster klettern?"
Sie schien kurz nachzudenken. „Das wird zu klein sein, aber das" Sie deutete auf das Fenster hinter sich. „Da passen wir durch." Voller Überzeugung nickte sie. Ihr zuliebe hielt ich den sarkastischen Kommentar, der mir auf der Zunge lag, zurück.
„Ich kann dir versichern, dass da unten niemand sitzt, der uns die Kehle durchschneidet." Vorsichtig löste ich ihre Finger von meinem Arm. „Bleib hier, ich bin gleich wieder da." Sie sah nicht überzeugt aus. „Ich bin ein Hybrid", fügte ich daher hinzu. „Wenn du mich schreien hörst, weil mich der Pianist in kleine Stücke zerteilt, kannst du immer noch fliehen." Diesen Beitrag hätte ich mir augenscheinlich sparen sollen, denn sie stellte sich genau dieses Szenario unübersehbar vor. Beruhigend legte ich eine Hand ihren Arm. „Ich bin gleich wieder da", wiederholte ich und machte mich auf den Weg nach unten.
Wer auch immer spielte war nicht schlecht, zumindest klang es nicht schlecht. Es war definitiv Trish-Niveau, vielleicht sogar besser, weshalb es mich nicht wunderte, dass Beverly den Unterschied nicht erkannt hatte. Am Treppenabsatz hielt ich inne. Bevor ich mich traute, um die Ecke zu schauen, fragte ich mich, wie hoch die Wahrscheinlichkeit wohl war, dass Beverly recht hatte und nicht ich. Ziemlich schnell jedoch redete ich mir ein, dass ich vielleicht gleich einen älteren Nachbarn vorfinden würde, der Beverly einen Auflauf vorbei bringen wollte, und zufällig zu den irren Menschen gehörte, die am Klavier spielen mussten, sobald eines in Sicht war. So wie Trish eben. Wie man so vernarrt in etwas sein konnte, hatte ich nie verstanden. Und ich wusste, wie dämlich meine Vorstellungen eines pensionierten Pianisten mit einem Auflauf war, aber sie half mir dabei, den letzte Schritt zu tun und um die Ecke zu gehen, nur um kurz darauf völlig verwirrt stehen zu bleiben. Ein junges Mädchen saß am Klavier und spielte, als hätte es seit Jahrzehnten nichts anderes getan. Von meiner Position aus sah ich nur die langen, schwarzen Haare und die Kinderhände, also ging ich vorsichtig um das Klavier herum: Das Mädchen störte sich nicht daran, sondern stimmte lediglich mit einem amüsierten Lächeln in eine bedrohliche Melodie um, was mir ein klein wenig Angst machte.
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Cursed Boy (Band 2)
Paranormal„Wie soll ich sie vergessen, wenn ich ständig daran erinnert werde, dass ich sie vergessen soll?" *** Wann ist ein guter Zeitpunkt, um eine geliebte Person gehen zu lassen? Das fragt sich auch Aidan, als er, selbst nach vielen Monaten, Beverly nicht...