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Aidan

Das seltsame Gefühl, das ich Addie gegenüber verspürte, war noch immer da. Es war, als müsse ich sie neu kennenlernen. Nicht als meine Schwester, sondern als Addie. Jedoch wurde diese Sorge so groß wie eine Erbse, als ich sie völlig aufgelöst an mir vorbeirauschen sah.

Es war Sonntagnachmittag und ich hatte mich eben von Fabiana verabschiedet, die sich auf den Heimweg gemacht und mich gefragt hatte, ob ich nachkommen würde. Nach dem langen Flug und den zermürbenden Ereignissen des heutigen Tages, hätte ich nichts lieber getan, als mich neben Fabiana unter eine Decke zu kuscheln, mit James, die es sich in meinen Kniekehlen bequem machen würde, und einfach zu schlafen.

Aber es ging hier nicht um irgendetwas oder irgendjemanden.

Es ging um Addie. Selbst wenn mir auf dem Weg ins Krankenhaus ein Bein abgefallen wäre, hätte ich sie nicht noch einmal verlassen. Vielleicht auch, weil das hier zufällig ein Krankenhaus war und mit einem Bein in der Hand anzuhumpeln nicht die beste Voraussetzung war, um schnell wieder nach Hause zu dürfen, aber ihr versteht schon. Ich konnte Addie einfach nicht noch einmal alleine lassen. Nicht, wenn ich hoffte, dass sie mir verzieh.

Aber Fabiana war gegangen, nicht jedoch, ohne mir vorher das Versprechen abzunehmen, sie auf dem Laufenden zu halten.

Als ich wieder die Treppen nach oben gegangen war, war mir Addie entgegengelaufen. Ich war mir jedoch nicht sicher, ob sie mich überhaupt wahrgenommen hatte. Vielleicht hatten ihre Tränen ihr die Sicht auf alles andere verwehrt.

Ich lief ihr nach, weil ich sah, dass sie die einzige Treppe nahm, die nach oben aufs Dach führte, und ich vermeiden wollte, dass sie sich hinunterstürzte. Als Kinder waren wir oft auf dem Dach des Saint Agnes Medical Centers gewesen. Man konnte von hier aus die ganze Stadt überblicken. Es war ein hohes Gebäude, und dadurch, dass in dessen Umkreis nicht unmittelbar Häuser standen und es direkt unter uns nicht viel zu sehen gab, konnte man etwas weiter entfernt Fresno gut überblicken.

Es regnete nicht mehr, aber der Himmel war bleigrau. Die schwere Metalltüre fiel hinter mir zu und ich war mir nicht einmal sicher, ob sie von außen wieder aufzubekommen war. Addie, die sich krampfhaft am Metallgeländer festhielt und schluchzte, drehte sich nicht um, aber sie wusste, dass sie nicht mehr alleine war. Und sie wusste, dass ich es war, der sich ihr langsam näherte, sonst hätte sie sich umgedreht.

„Kennst du diese blöden Filme, in denen Leute zu Sterbenden sagen: Es ist okay?", schluchzte sie, nach Luft schnappend. Sie klang wütend und verzweifelt. „Du kannst gehen, mach dir keine Sorgen um uns, wir kommen zurecht." Sie zitterte. „Es ist nicht okay! Was ist nur mit diesen Leuten falsch? Bin ich egoistisch? Ich hab zu ihm gesagt, dass ich ihn umbringe, wenn er stirbt! Dass er gefälligst aufwachen und mich hassen und anschreien soll, weil ich die schlimmste Freundin der Welt bin und einen riesengroßen Fehler gemacht habe, aber dass er auf gar keinen Fall sterben darf, weil..." Sie stieß einen gequälten Laut aus. „Ich schaff das nicht ohne Trev, ich kann nicht! Ich kann einfach nicht. Wenn er stirbt, dann will ich nicht mehr, dann gehe ich! Ich hab genug davon!" Sie drückte sich vom Gelände und versuchte durchzuatmen.

Ich fragte mich, wie viel ein Mensch ertragen konnte, bevor er aufgab. Bei Addie brauchte es augenscheinlich nicht mehr viel. Als sie sich zu mir umdrehte und ich all das, was sie eben gesagt hatte, in ihren Augen sehen konnte, bekam ich Angst.

Sie war doch noch die kleine Addie, die ich jahrelang zu schützen versucht hatte. Die kleine Addie, die es auch jetzt zu beschützen galt.

„Du bist alles, was ich je sein wollte", schniefte sie plötzlich und sah mich aus schmerzerfüllten Augen an. „Weil ich dich ärgern und nerven und mich über dich lustig machen kann, bis du rot anläufst, aber du mich trotzdem liebst! Weil du klug bist und witzig und nett und dich immer um mich gekümmert hast. Ich hab immer zu dir aufgesehen, weil du mein großer Bruder bist und mir gezeigt hast, was richtig und falsch ist, wenn es sonst keiner getan hat." Addie schloss für einen Moment die Augen und mehr Tränen kullerten über ihre Wange. Ich konnte stumm nur zurückstarren. Eigentlich hatte ich mit weiteren verzweifelten Trauergesängen über Trev gerechnet. Oder mit erneuten Boxangriffen. Aber nicht mit einem so rasanten Themenwechsel.

Cursed Boy (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt