Beverly
Normalerweise war ich kein zögerlicher Mensch. Zumindest war ich es seit längerem nicht mehr. Entscheidungen zu treffen fiel mir weder besonders schwer, noch besonders leicht, aber meist entschied ich mich für einen sicheren, leichten Weg. Zumindest was die kleinen Dinge anbelangte. Bei den großen, lebenswichtigen Entscheidungen schien ich immer den, mit Glasscherben und Feuer gepflasterten, Weg zu wählen.
Als ich an diesem Morgen jedoch in meinem schwarzen Kleid vor dem Spiegel in meinem kargen Zimmer stand, mich von links nach rechts drehte, mir den schwarzen Hut abwechselnd tief ins Gesicht zog und dann wieder ein Stück nach oben schob, überlegte ich mir hunderte Male, ob ich tatsächlich auf diese Beerdigung gehen wollte. Chase hatte recht. Die Gefahr, von jemandem gesehen zu werden, war recht hoch, auch, wenn es nur zwei Personen gab, die mich erkannt hätten. Gestern hatte ich mir keine Sorgen gemacht, dafür war diese Angst heute umso schlimmer.
Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne, und der Baum in meinem Hinterhof überließ die Bestattung, seiner braunen Blätter, dem Wind. Tief durchatmen, Beverly.
Es war nicht leicht, das musste ich mir letztendlich eingestehen. Rose war für mich da gewesen, als es sonst keiner gewesen war. Sie hatte mir viel über Dämonen erzählt. Ich war mir sicher, ohne sie niemals so weit gekommen zu sein.
Während ich mein Spiegelbild betrachtete, musste ich an den Tag zurück denken, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Es war mein erster Tag im J.W. House gewesen, kurz nachdem meine Eltern gestorben waren und ich einen kompletten Nervenzusammenbruch wegen all der Stimmen in meinem Kopf gehabt hatte. Ich war durch die Gänge gestreift, um diesen Ort ein bisschen genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei war ich an Rose' Zimmer vorbei gekommen. Sie hatte in ihrem Rollstuhl gesessen und mich angesehen, fast so, als hätte sie mich erwartet. Ihre Blicke waren mir unheimlich gewesen, und ich hatte erst weitergehen wollen, war dann aber umgedreht und hatte mich von ihr auf ihr Zimmer einladen lassen.
Angestrengt atmete ich aus, fuhr mir durch die Haare und versuchte nicht daran zu denken, dass sie lange Zeit die einzige Familie gewesen war, die ich gehabt hatte. Wen hatte ich jetzt noch?
„Komm schon, Beverly, du schaffst das. Du hast schon deine halbe Familie beerdigt. Das ist nichts Neues für dich." Allerdings war mir diese halbe Familie auch nicht sonderlich viel Wert gewesen. Trotzdem nickte ich meinem Spiegelbild tapfer zu. Zögerlich legte ich mir die Halskette um, die Rose mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ein silberner Adler mit smaragdgrünen Augen. Rose hatte auch solch eine Augenfarbe gehabt. Und Addie hatte sie ebenfalls geerbt. Nur Aidan nicht -er hatte braune Augen. Kaffeebraune Augen, die meist so ernst gewesen waren, dass ich die versteckten Gefühle darin nie hatte erkennen können. Außer, wenn er mich angelächelt hatte. Aber dieses Lächeln galt nun wohl jemand anderem.
Verdammt, ich hätte nicht an Aidan denken sollen. Denn nun bekam ich ihn nicht mehr aus dem Kopf. Würde seine Freundin auch da sein? Ich wollte sie nicht mit ihm sehen. Ich wollte nicht sehen, wie er ihr dasselbe Lächeln schenkte, das er mir früher geschenkt hatte. Ich wollte nicht wissen, wie sie aussah.
„Ist sie hübsch?", hatte ich Chase damals gefragt. „Ist sie hübscher, als ich?"
„Sie sieht ganz gut aus", hatte er zögerlich geantwortet. „Aber ob sie hübscher ist als du, kann ich wirklich nicht sagen." Ich fand mich nicht unbedingt hässlich. Aber seit ich das Haus kaum noch verließ und mich praktisch von Wein und Donuts ernährte, fand ich mich auch nicht hübsch. Und seit Aidan mit Fabiana zusammen war, noch weniger.
Klar, ich freute mich für ihn... irgendwie. Ich war froh, dass er wieder glücklich war, aber er war der erste Mensch gewesen, in den ich mich wirklich verliebt hatte. Nun war ich ohne Dämon und war tatsächlich in der Lage, Menschen auf meiner Prioritätenliste ganz nach oben zu schieben. Aber das würde ich ihm nicht noch einmal antun. Ich würde mich ihm nicht noch einmal zumuten. Schließlich hatte ich sein Leben schon mal auf den Kopf gestellt. Er sollte denken, dass ich tot war. Das war besser so, als herauszufinden, dass ich aus irgendwelchen seltsamen Gründen doch noch lebte. Er hatte genug damit zu tun, sein eigenes Leben und das seiner Schwester zu richten.
Eigentlich hatte ich vor, ihm heute aus dem Weg zu gehen. Nicht nach ihm Ausschau zu halten. Ihn nicht zu sehen. Nicht von ihm gesehen zu werden. Aber was, wenn mir das misslingen würde? Welche Gefühle würden in mir aufkeimen, würde ich ihn wieder sehen?
Genervt schüttelte ich den Kopf, in der Hoffnung, meine Gedanken, wie der Baum seine Blätter, abschütteln zu können.
„Er ist über dich hinweg. Schon lange", erklärte ich meinem Spiegelbild. „Wahrscheinlich hat er dich sogar schon vergessen. Lebt ein glückliches Leben. Als Nachbarschaftsonkel. Halte. Dich. Da. Raus."
Doch meine Vorsätze hielten nicht lange. Sobald ich am Friedhof ankam, mit einer roten Rose, hielt ich unbewusst nach ihm Ausschau. Ob es jedoch daran lag, dass ich ihm rechtzeitig aus dem Weg gehen oder ihn wiedersehen wollte, konnte ich nicht sagen. Doch eines war mal sicher. Er hatte nicht gelogen: Seine Familie war verdammt groß. Sie war so groß, dass ich mich vermutlich problemlos hätte dazustellen können, ohne bemerkt zu werden. Aber dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Also platzierte ich mich ziemlich abseits, bei ein paar anderen Gräbern und tat so, als ob ich einen verstorbenen Verwandten besuchen würde. Während ich vor dem Grab einer gewissen Moreen Stewards stand und die schwarz gekleidete Menschenmasse betrachtete, fiel mir noch ein weiterer Grund ein, warum ich Dentalion, meinen Dämon, vermisste. Ganz einfach deshalb, weil ich von meiner Position aus kein Sterbenswörtchen von dem hörte, was der Pfarrer sagte. War es schnulzig? Kitschig? Traurig? Schön? Rose hätte es bestimmt gefallen. Ihre ganze Familie auf einem Haufen. Das hatte sie sich immer gewünscht. Sie war nie schizophren gewesen. Sie hätte nie in dieser Anstalt landen dürfen. Sie hatte immer nur Addie beschützen wollen.
Nach einiger Zeit kam Bewegung in die Masse, und ich nahm an, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, an dem jeder Blumen oder Erde auf den Sarg warf. Ich atmete auf. Bald war es geschafft. Bald würde auch ich Rose Lebewohl sagen können. Menschen aller Altersklassen entfernten sich langsam von dem Grab. Umarmend, schluchzend, mit Taschentüchern bewaffnet. Ich hatte mir geschworen, nicht zu weinen, aber es fiel mir nicht leicht.
Und dann blieb mein Herz für einen Moment stehen und meine Körpertemperatur erhöhte sich mindestens auf das Doppelte, noch bevor mein Gehirn registriert hatte, warum. Denn ich erkannte erst nur ein junges Pärchen. Ein Mann, braune Haare, dunkler Anzug, eine Frau, braune Locken, schwarzes Kleid. Es hätte jeder sein können. Deshalb begriff ich auch erst bei genauerer Betrachtung, dass es Trev und Addie waren. Ich hielt den Atem an, unfähig, mich zu bewegen.
Monatelang hatte ich mir ausgemalt, wie es wohl sein würde, auf Aidan, Addie, Trev oder Trish zu treffen. Selbst in Bakersfield war ich vorsichtig unterwegs gewesen, und sobald ich einen Hinterkopf gesehen hatte, der auch nur die geringste Ähnlichkeit mit einem der vier hatte, hatte ich mich abgewandt. Es war eigentlich nie nötig gewesen, doch genau jetzt hätte ich tun müssen, was ich all die Monate geübt hatte. Wegsehen, weggehen. Ich wollte mich dazu zwingen, meinen Blick abzuwenden, schaffte es aber nicht. Addie hatte sich die Haare geschnitten. Sie wirkte viel erwachsener. In den zwei Monaten, in denen ich bei Aidan gewohnt hatte, hatte ich sie jedoch nicht ein Mal ein Kleid tragen sehen. Aber sie sah hübsch aus- wie immer.
Trev hingegen hatte sich kein bisschen verändert. Er war immer noch groß, hatte braune Haare, war gebräunter als Addie und trug einen Anzug, der besser zu seinem Typ passte, als das Kleid zu Addie. Sie hatte sich bei ihm untergehakt. Die beiden schlichen die Wiese entlang, zwischen tausenden Toten, deren Anwesenheit man nur durch die Grabsteine bemerkte. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ein Friedhof war fast wie ein Massengrab. Leiche neben Leiche unter der Erde aufgebahrt. Tote Körper, die eine leere Hülle waren und einmal von Seelen, oder was auch immer, bewohnt worden waren. Von Maden zerfressen, von Ameisen zerlegt. Mir wurde schlecht. Ich sah mich um. Viele Grabsteine. So viele. Alle eingravierten Namen repräsentierten einen Menschen. Einen Menschen, der ein Leben gehabt hatte. Hier spielte es keine Rolle, wie viel Geld jemand einmal besessen, wie sehr jemand einen Menschen geliebt, oder wie viele Menschen eine Person schon verloren hatte. Tausende Menschen, ohne Probleme.
Rose war nun eine davon.
Schwindel packte mich. So viele Menschen. Zu viele Menschen. Ich musste mich daran erinnern, zu atmen, aber etwas blockierte meine Atemwege. Die Rose glitt aus meiner Hand und ich ging weg. Erst langsam, dann immer schneller, bis ich zwischen den Gräbern hindurch rannte. Ich hatte das Gefühl, die Toten würden mich beobachten. Mich verspotten. Ihre Hand aus ihren Gräbern strecken und nach mir greifen. Mich zu einem von ihnen machen. Ich rannte durch das große Tor, über den Kiesweg, zurück auf die Straße. Ich wäre gerne stehen geblieben, um nach Luft zu schnappen, aber meine Beine liefen einfach weiter.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich auf etwas zulief. Ich lief vor etwas weg. Und das nicht zum ersten Mal.
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Cursed Boy (Band 2)
Fantastique„Wie soll ich sie vergessen, wenn ich ständig daran erinnert werde, dass ich sie vergessen soll?" *** Wann ist ein guter Zeitpunkt, um eine geliebte Person gehen zu lassen? Das fragt sich auch Aidan, als er, selbst nach vielen Monaten, Beverly nicht...