Beverly
Selbst nach guten sieben Monaten konnte ich mich nicht mit dem Holzgeruch in diesem Haus anfreunden. Egal, wie viel ich putzte, oder wie viele Duftkerzen ich herumstehen hatte, jedes Mal, wenn ich die Treppen nach unten ins Wohnzimmer ging, stieg mir der penetrante Holzgeruch in die Nase, an den ich mich einfach nicht gewöhnen konnte. Er erinnerte mich zu sehr an eine Zeit, an die ich mich einfach nicht erinnern wollte.
Es hatte mich schon um sechs Uhr morgens aus dem Bett getrieben. Über meinem Fenster hatten ein paar Vögel einen Vorsprung genutzt, um sich ihr Nest zu bauen. Die Küken waren vor wenigen Tagen geschlüpft und machten einen furchtbaren Krach. Morgens, mittags und abends. Eigentlich immer, sobald sie Hunger hatten. Und die Vogelmama meckerte mich jedes Mal fürchterlich an, wenn ich es wagte, meinen Kopf aus dem Fenster zu stecken, um die kleinen Federbällchen zu sehen. Ich hatte keine Ahnung, warum diese Vögel im Herbst geschlüpft waren, aber ich kannte mich auch kein bisschen mit diesen Tieren aus.
Mittlerweile war es fast Mittag, und ich saß an der kleinen Kücheninsel, über alle möglichen Bücher und Ordner gebeugt. Mein Laptop stand neben mir. Und ein Glas Rotwein.
Ich überlegte gerade, ob ich mein Schlafzeug und den Morgenmantel nicht doch lieber in Jeans und Pullover eintauschen wollte, als es an der Türe klingelte. Verwundert rutschte ich von dem Barhocker und eilte zur Tür.
„Was zum Teufel machst du denn schon hier?", fragte ich.
„Okay, nein, das versuchen wir noch einmal." Chase zog die Türe wieder zu, und ich starrte irritiert auf das Holz, während ich mich fragte, was das sollte. Nach ein paar Sekunden klopfte es erneut. Mir entfuhr ein amüsierter Laut, als ich verstand, was er gemeint hatte. Dann zog ich die Türe erneut auf.
„Guten Morgen, Chase! Wie schön, dich zu sehen", lächelte ich, übertrieben freundlich, bevor ich wieder ernst wurde. „War das besser?"
„Viel besser." Er ging an mir vorbei in das unaufgeräumte Wohnzimmer. Ich schloss die Türe wieder und folgte ihm.
„Ich meine es ernst, was machst du schon hier?" Normalerweise kam er nicht vor fünf Uhr nachmittags vorbei. Er stellte die zwei Pappbecher in ihrer Halterung aus Karton zwischen dem Schlachtfeld aus Büchern ab, bevor er eine Papiertüte hochhielt.
„Die Hälfte des Basketballteams liegt wegen Grippe flach, und ich hab uns Donuts geholt. Du darfst mir jetzt die Füße küssen."
„Ich kann dir draufspucken, wenn du möchtest", entgegnete ich und nahm einen der Becher aus der Halterung, hob den Deckel an und schnupperte daran. Es war unverwechselbar der Gestank von Kaffee, also griff ich nach dem anderen Becher, in dem mein Chai Latte auf mich wartete. Dann griff ich in die Papiertüte und zog einen Donut mit Schokoladenglasur heraus. Genüsslich schloss ich die Augen, als ich hineinbiss. Ich hatte heute noch nichts gegessen. Ich aß generell nicht mehr viel. Die meiste Zeit hatte ich keine Lust, einkaufen zu gehen. Entweder bestellte ich beim Lieferservice, oder ging hungrig durch den Tag. Seit ich hier ganz alleine wohnte und mich kaum noch aus dem Haus wagte, hatte sich mein Umgang mit Leuten, die ich nicht kannte, wieder drastisch verschlechtert. Wenn ich mich auf die Straßen oder in den Supermarkt traute, dann nur zu Zeiten, zu denen kaum jemand unterwegs war. Mit meiner Kapuze tief im Gesicht und rasendem Herz wagte ich es dann, durch die Stadt zu gehen, ganz ohne einen Dämon, der mich beschützt hätte.
Vielleicht war das ja der Grund, warum ich in einer so leeren, uninteressanten Stadt wohnte.
„Du hast heute ziemlich gute Laune, oder?", nuschelte ich und biss noch einmal in das kleine Gebäckstück.
„Ich wünschte, ich könnte dasselbe zu dir sagen", gab er grinsend zurück und nickte zu dem halbleeren Weinglas. „Bevy? Muss ich mir etwa Sorgen machen?"
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Cursed Boy (Band 2)
Paranormal„Wie soll ich sie vergessen, wenn ich ständig daran erinnert werde, dass ich sie vergessen soll?" *** Wann ist ein guter Zeitpunkt, um eine geliebte Person gehen zu lassen? Das fragt sich auch Aidan, als er, selbst nach vielen Monaten, Beverly nicht...