Aidan
Als Kind hatte ich einen dieser Holzsteckwürfel gehabt. In einen großen hohlen Würfel waren verschiedene Formen, in verschiedenen Farben herausgeschnitten gewesen. Kreise, Quadrate, Sterne, Sechsecke, Trapeze, Deltoide. Die zugehörigen Formen hatte man durch die, für sie vorgesehenen, Löcher an den Seiten des Würfels schieben sollen, so dass sie ins Innere fallen. Ich hatte nicht lange gebraucht, um das Prinzip zu durchschauen, und irgendwann war es mir zu langweilig geworden. Meine Schwester hatte diesen Würfel auch bekommen, als sie alt genug gewesen war, nicht mehr alles in den Mund zu stecken, was man ihr gab. Addie hatte gute sechs Monate gebraucht, um zu verstehen, dass ein kreisförmiges Objekt nicht durch das Loch des Sternes passen würde -auch nicht mit Gewalt und frustriertem Gebrüll.
Dafür hatte sie beim Lesen das Buchstabieren übersprungen und die Bücherregale unserer Eltern ausgeräumt, bis sie ein kleines, rotes Büchlein gefunden hatte. Das hatte sie dann lauthals vorgelesen und vermutlich kein Wort verstanden, weil sie erst drei gewesen war, aber ich hatte zu dem Zeitpunkt in der Schule gerade Mal das Alphabet gelernt.
Alle Leute, die je behauptet hatten, Addie und ich seien wie Zwillinge, hatten nicht den Hauch einer Ahnung, wovon sie gesprochen hatten. Trev hatte einmal gemeint, Addie und ich wären nicht wie Sonne und Mond, sondern wie Erde und Mond. Beide aus demselben Holz geschnitzt (-eher aus demselben Planeten-) und nicht miteinander zu vergleichen, aber trotzdem konnten wir nicht ohne den anderen, soviel stand fest.
Dass Addie und ich trotz allem unterschiedlicher kaum hätten sein können, bewies sie mir mal wieder, als sie mich auf die Studentenparty schleppen wollte, auf die ich absolut keine Lust hatte. Sie hatte gemeint, dass sie ihre alten Studienkollegen und Freunde seit zu vielen Monaten nicht mehr gesehen hatte. Nur verstand ich nicht ganz, wie ich da rein passte. Ich sah meine Kollegen immerhin fast täglich an der Uni und wusste beim besten Willen nicht, warum Addie mich gefragt hatte, sie zu begleiten.
„Jetzt mach doch nicht so ein Gesicht." Sie boxte mir in den Oberarm und richtete ihren Blick wieder auf die Straße, während ich nur mürrisch aus dem Fenster starrte. „Es ist ja nicht so, als hätte ich dich gezwungen mitzukommen", fuhr Addie fort. Ich drehte mich ungläubig zu ihr.
„Du hast gesagt, dass ich ein Trauerkloß geworden bin, seit Rose weg ist. Ziemlich provokant, wenn ich anmerken darf."
Der Tod unserer Großmutter war nun knapp zwei Wochen her. Ich war kein Trauerkloß, nur weil ich nicht über sie reden wollte. Ich hatte schließlich damals auch nicht über Beverly reden wollen. Erkannte Addie das Muster nicht?
Meine Schwester war vor einer Woche nach Wexford zurückgeflogen, um ihre Sachen zu packen und wieder zurückzukommen. Ich hatte meine Zweifel gehabt, ob sie auch tatsächlich wieder herkommen würde, aber am nächsten Tag hatte sie vor unserer Türe gestanden, mit dem großen Koffer und ihrem breiten Ich-geh-euch-offiziell-wieder-von-Angesicht-zu-Angesicht-auf-den-Sack-Grinsen.
Offenbar wollte sie bei der Umsetzung ihres Plans keine Zeit verschwenden.
„Du sitzt aus freien Stücken in diesem Wagen."
„Nein, sondern weil du eine hinterhältige, manipulative Ratte bist."
„Das überrascht dich immer noch?" Nicht wirklich. „Wie hast du damals so schön gemeint?" Sie nickte amüsiert zur Beifahrertüre. Als Addie damals meinem Auto ihren persönlichen Stempel aufgedrückt hatte, hatte ich mich ein paar Jahre später, als sie ihr Auto bekommen hatte, dafür revanchiert. Auf der Beifahrerseite ihres Wagens stand mit schwarzem Marker, direkt unterhalb des Fensters, geschrieben: Attention! This car is driven by one of the most precarious species in this world: A little sister.
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Cursed Boy (Band 2)
Siêu nhiên„Wie soll ich sie vergessen, wenn ich ständig daran erinnert werde, dass ich sie vergessen soll?" *** Wann ist ein guter Zeitpunkt, um eine geliebte Person gehen zu lassen? Das fragt sich auch Aidan, als er, selbst nach vielen Monaten, Beverly nicht...